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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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weniger aufs Spielen bedacht, schmiegt sich an mich, legt den Kopf auf meinen Schoß; wir verbringen ganze Nächte in dieser Haltung — nichts ist schöner als sanfter Schlaf in Gegenwart eines geliebten Wesens. Dann geht die Sonne auf, erhebt sich über der Residenz; ich stelle Fox seinen Freßnapf hin und koche mir einen Kaffee. Ich weiß jetzt, daß ich meinen Kommentar nicht zu Ende schreiben werde. Ich verlasse ohne wirkliches Bedauern ein Leben, das mir keine große Freude bereitet hat. Im Hinblick auf den Tod sind wir zu einer Haltung gekommen, die den Texten der ceylonesischen Mönche zufolge etwa der entspricht, die die Buddhisten des »kleinen Fahrzeugs« zu erreichen suchten; unser Leben im Augenblick des Dahinscheidens »gleicht einer Kerze, die man ausbläst«. Wir können auch sagen, um mit den Worten der Höchsten Schwester zu sprechen, daß unsere Generationen aufeinander folgen »wie die Seiten eines Buchs, das man durchblättert«.
    Marie23 schickt mir mehrere Nachrichten, die ich unbeantwortet lasse. Daniel25 wird die Aufgabe zufallen, den Kontakt aufrechtzuerhalten, wenn er es wünscht. Eine leichte Kälte macht sich in meinen Gliedmaßen bemerkbar, Zeichen, daß meine letzte Stunde naht. Fox spürt es, jault leise, leckt mir die Zehen ab. Ich habe Fox schon mehrmals sterben sehen, ehe er durch seinesgleichen ersetzt wurde; ich habe zugesehen, wie sich seine Augen schlossen und sein Herz zum Stillstand kam, ohne daß der tiefe animalische Friede seiner schönen braunen Augen davon gestört wurde. Ich bin nicht zu dieser Weisheit fähig, keinem Neo-Menschen wird das je gelingen; ich kann mich diesem Stadium nur annähern, den Rhythmus meiner Atmung und meiner Mentalprojektionen absichtlich verlangsamen.
    Die Sonne steigt höher, erreicht den Zenit; dennoch spüre ich, wie die Kälte immer stärker wird. Undeutliche Erinnerungen treten mir vor Augen und verschwinden wieder. Ich weiß, daß meine Askese nicht unnütz war; ich weiß, daß ich an der Substanz der Zukünftigen teilhaben werde.
    Auch die Mentalprojektionen verschwinden nach und nach. Mir bleiben vermutlich noch ein paar Minuten. Ich spüre nichts anderes als eine leichte Traurigkeit.

     

Zweiter Teil

    Kommentar von Daniel25

    Daniel I,12

    Im ersten Lebensabschnitt wird man sich seines Glücks erst bewußt, wenn man es verloren hat. Dann kommt ein zweiter Abschnitt, ein Alter, in dem man, sobald sich ein neues Glück abzeichnet, bereits weiß, daß es nur von kurzer Dauer sein wird. Als ich Belle kennenlernte, begriff ich, daß der zweite Lebensabschnitt für mich begonnen hatte. Ich begriff auch, daß ich noch nicht das Alter der dritten Phase erreicht hatte, in dem einen die Vorwegnahme des Glücksverlusts daran hindert, sich auf das Glück einzulassen.
    Was Belle angeht, möchte ich ganz einfach, ohne zu übertreiben und ohne metaphorische Verbrämung, sagen, daß sie mich zu neuem Leben erweckt hat. Mit ihr habe ich Momente höchsten Glücks erlebt. Vielleicht war es das erstemal, daß ich die Gelegenheit hatte, diesen einfachen Satz auszusprechen. Mit ihr habe ich Momente höchsten Glücks erlebt; in ihr oder neben ihr; wenn ich in ihr war und auch kurz davor oder kurz danach. In jenem Stadium war die Zeit noch gegenwärtig; es gab lange Momente, in denen sie stillzustehen schien, und dann machte sie sich wieder in einem »und dann« bemerkbar. Später, ein paar Wochen nach unserer Begegnung, verschmolzen diese Momente des Glücks, wurden eins; und mein ganzes Leben wurde in ihrer Gegenwart, unter ihren Augen zu reinem Glück.
    Belle hieß in Wirklichkeit Esther. Ich habe sie nie Belle genannt — nie in ihrer Gegenwart.
    Es war eine seltsame Geschichte. Eine herzzerreißende, wirklich herzzerreißende Geschichte, ma Belle. Und das Seltsame daran war, daß sie mich im Grunde nicht überrascht hat. Vermutlich hatte ich in den Beziehungen, die ich mit anderen Menschen unterhielt (ich hätte fast geschrieben: »in den offiziellen Beziehungen, die ich mit anderen Menschen unterhielt«; denn das trifft in gewisser Weise durchaus zu), die Tendenz, meinen Zustand der Verzweiflung zu überschätzen. Irgend etwas in mir wußte also und hatte schon immer gewußt, daß ich eines Tages die Liebe kennenlernen würde — ich meine eine gegenseitige, erwiderte Liebe, die einzige, die wirklich zählt, die einzige, die uns zu einer anderen Form der Wahrnehmung bringt, in der der Individualismus einen Knacks bekommt, die Lebensbedingungen

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