Die Mglichkeit einer Insel
Gang entlangliefen. Ich wunderte mich ein bißchen über seine deutlich bekundete Ergebenheit und versuchte mir wieder vor Augen zu führen, was ich über primitive Stammesriten und hierarchische Ritualhandlungen wußte, doch es fiel mir schwer, mich daran zu erinnern, das waren wirklich Jugendlektüren gewesen, die aus der Zeit stammten, als ich noch Schauspielunterricht nahm; damals war ich überzeugt, daß man die gleichen Mechanismen in kaum abgewandelter Form in den modernen Gesellschaften wiederfand und daß ihre Kenntnis mir nützlich sein könne, um meine Sketche zu schreiben — diese Hypothese hatte sich übrigens im wesentlichen als richtig herausgestellt, vor allem die Lektüre von Levi-Strauss war sehr hilfreich gewesen. Als ich wieder den kleinen Vorplatz erreichte, machte ich beim Anblick des gut fünfzig Meter unter mir liegenden Zeltlagers, in dem die Anhänger untergebracht waren, überrascht halt: Es waren mindestens tausend makellos weiße, identische Iglu-Zelte, die eng nebeneinander standen und so angeordnet waren, daß sie einen Stern mit gekrümmten Zacken bildeten, das Emblem der Sekte. Man konnte dieses Muster nur von hier oben sehen — oder vom Himmel, wie Patrick meinte. Die Botschaft würde, wenn sie erst mal errichtet war, die gleiche Form haben, der Prophet habe die Pläne dafür selbst entworfen und würde sie mir sicher gern zeigen.
Ich hatte eigentlich ein Festessen mit erlesenen Köstlichkeiten erwartet, doch ich wurde schnell enttäuscht. In Sachen Ernährung begnügte sich der Prophet mit äußerst frugalen Dingen: Tomaten, Bohnen, Oliven, Hartweizengries — und alles in kleinen Mengen; ein wenig Schafskäse und dazu ein Glas Rotwein. Er war nicht nur ein Schonkostfreak, sondern trieb täglich eine Stunde Gymnastik, machte Übungen, die speziell für die Stärkung des kardiovaskulären Systems entwickelt waren, außerdem nahm er Panteston und MDMA-Tabletten und andere Medikamente, die nur in den USA zu bekommen waren. Er war buchstäblich vom Gedanken an das körperliche Altern besessen, und das Gespräch drehte sich fast ausschließlich um die Ausbreitung freier Radikale, die Verschränkung der Kollagene, die Fragmentierung des Elastins und die Anhäufung von Lipofuszin in den Leberzellen. Er schien das Thema sehr genau zu kennen, der Professor griff nur hin und wieder ein, um eine Einzelheit zu erläutern. Mit uns am Tisch saßen Flic, der Humorist und Vincent — den ich zum erstenmal seit meiner Ankunft sah und der mir noch verlorener vorkam als sonst: Er hörte überhaupt nicht mehr zu, schien an persönliche, unformulierbare Dinge zu denken, und sein Gesicht zuckte nervös, vor allem immer dann, wenn Susan auftauchte — wir wurden von den Bräuten des Propheten bedient, die für diesen Anlaß lange weiße, seitlich geschlitzte Gewänder angelegt hatten.
Der Prophet trank keinen Kaffee, und die Mahlzeit wurde mit einem Kräuteraufguß von grüner Farbe beendet, der äußerst bitter, aber ihm zufolge sehr wirksam gegen die Anhäufung von Lipofuszin war. Der Professor bestätigte diesen Hinweis. Wir gingen früh auseinander, der Prophet betonte, wie wichtig es sei, lange und viel zu schlafen. Vincent holte mich mit schnellen Schritten auf dem Gang ein, der ins Freie führte, ich hatte den Eindruck, daß er sich an mich hängte, mit mir sprechen wollte. Die Höhle, die man mir zur Verfügung gestellt hatte, war etwas geräumiger als seine, es gehörte noch eine Terrasse hinzu, von der man einen Blick auf das Zeltlager hatte. Es war erst elf Uhr abends, aber alles war völlig ruhig, keine Musik war zu hören, und zwischen den Zelten war kaum Bewegung zu erkennen. Ich schenkte Vincent ein Glas Glenfiddich ein, den ich im Duty-free-Shop des Flughafens von Madrid gekauft hatte.
Ich hatte eigentlich damit gerechnet, daß er ein Gespräch beginnen würde, aber er tat es nicht, sondern begnügte sich damit, sich nachzuschenken und die Flüssigkeit im Glas zu schwenken. Auf meine Fragen nach seiner Arbeit gab er mir nur enttäuschte, einsilbige Antworten; er hatte noch mehr abgenommen. Als ich keinen anderen Ausweg mehr sah, erzählte ich ihm von mir, das heißt von Esther, denn das war in der letzten Zeit so ziemlich das Einzige, was ich in meinem Leben als erwähnenswert betrachten konnte; ich hatte mir auch eine neue Sprinkleranlage gekauft, aber ich fühlte mich nicht imstande, lange über dieses Thema zu sprechen. Er bat mich, ihm noch mehr über Esther zu erzählen, was ich
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