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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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dreihundert Leute zu dem Winterseminar gekommen waren; für eine Organisation, die behauptete, achtzigtausend Anhänger weltweit zu haben, war das wenig. Er führte diesen Mißerfolg auf das zu hohe Niveau der Vorträge von Miskiewicz zurück. »Das übersteigt die Leute völlig… In einem Kurs, der für alle gedacht ist, sollte man besser den Akzent auf einfachere Dinge legen, die das Zusammengehörigkeitsgefühl fördern. Aber der Prophet ist total fasziniert von der Naturwissenschaft …«, sagte er bitter. Ich wunderte mich, daß er so offen mit mir sprach; das Mißtrauen, das er mir beim Seminar in Zwork entgegengebracht hatte, schien verflogen zu sein. Es sei denn, er suchte in mir einen Verbündeten: Er hatte sich vermutlich erkundigt und erfahren, daß ich ein VIP ersten Ranges war und vielleicht dazu berufen, eine Rolle in der Organisation zu spielen und die Entscheidungen des Propheten zu beeinflussen. Sein Verhältnis zum Professor war nicht gut, das war offensichtlich: Dieser betrachtete ihn als eine Art Feldwebel, der höchstens dazu geeignet war, den Ordnungsdienst zu organisieren oder die Beköstigung der Kursteilnehmer sicherzustellen. Wenn es hin und wieder zwischen den beiden zu einem scharfen Wortwechsel kam, zog sich der Humorist mit Ironie aus der Klemme, vermied es, Partei zu ergreifen, und verließ sich ganz auf seine enge persönliche Beziehung zum Propheten.
    Der erste Vortrag des Tages war auf acht Uhr angesetzt, und zwar, wie sollte es anders sein, ein Vortrag von Miskiewicz mit dem Titel »Der Mensch: Materie und Information«. Als ich ihn sah, wie er abgezehrt, ernst und mit einem Stapel Notizen unter dem Arm auf das Podium stieg, sagte ich mir, daß er tatsächlich in einem Doktorandenseminar eher an seinem Platz wäre als hier. Er begrüßte kurz die Anwesenden, ehe er mit seinem Referat begann: Nicht eine einzige augenzwinkernde oder humoristische Bemerkung und auch nicht der Versuch, Emotionen, sei es sentimentaler oder religiöser Art, in der Zuhörerschaft hervorzurufen; nur Wissen in Reinzustand.
    Nachdem er eine halbe Stunde dem genetischen Code, der inzwischen weitgehend erforscht war, und dessen bisher weniger bekannter Funktion bei der Synthese der Proteine gewidmet hatte, kam dann doch ein kleiner Bühneneffekt. Zwei Assistenten brachten mit etwas Mühe einen Behälter von der Größe eines Zementsacks herbei, den sie vor ihm auf den Tisch stellten und der aus nebeneinander angebrachten durchsichtigen Plastiksäcken verschiedener Größe bestand, die verschiedene chemische Produkte enthielten — der mit Abstand größte Sack war mit Wasser gefüllt.
    »Das hier ist ein Mensch!…« rief der Professor mit einer gewissen Emphase — später erfuhr ich, daß der Prophet ihn aufgrund von Flics Bemerkung gebeten hatte, seinen Vortrag ein bißchen dramatischer zu gestalten; er hatte ihn sogar in einen Crashkurs für Rhetorik mit Videotraining eingeschrieben, der unter der Aufsicht von Berufsschauspielern durchgeführt wurde. »Der Behälter, der auf diesem Tisch steht«, fuhr er fort, »hat die gleiche chemische Zusammensetzung wie ein erwachsener Mensch von siebzig Kilo. Wie Sie feststellen können, bestehen wir vor allen Dingen aus Wasser…« Er nahm eine Sondiernadel und stach damit in den durchsichtigen Sack; es bildete sich ein kleiner Strahl.
    »Natürlich gibt es große Unterschiede …« Das Schauspiel war beendet, er wurde wieder ernst; der Wassersack wurde schlaff, entleerte sich langsam. »Diese Unterschiede, so groß sie auch sein mögen, lassen sich in einem Wort zusammenfassen: Information. Der Mensch besteht aus Materie plus der Information. Die Zusammensetzung dieser Materie kennen wir heute auf das Gramm genau: Es handelt sich um einfache chemische Elemente, die weitgehend schon in der unbelebten Natur vorhanden sind. Auch die Information ist uns bekannt, zumindest deren Prinzip: Sie beruht ausschließlich auf der DNA, jener des Zellkerns und jener der Mitochondrien. Diese DNA enthält nicht nur die erforderliche Information für den Aufbau des Ganzen, die Embryogenese, sondern auch jene, die anschließend die Funktionsweise des Organismus steuert und bestimmt. Warum sollten wir uns also dazu zwingen, den Weg über die Embryogenese zu wählen? Warum sollten wir nicht einen erwachsenen Menschen direkt mit Hilfe der erforderlichen chemischen Elemente und des durch die DNA gelieferten Schemas herstellen? Das ist natürlich der Weg, den die Forschung in der Zukunft

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