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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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Glaubensgemeinschaft sie vorher angehört haben!…«
    Alle am Tisch hörten auf zu essen; manche nickten, aber niemand wußte etwas darauf zu erwidern. Enttäuscht setzte sich der Prophet wieder und gab der Dunkelhaarigen mit dem Kopf ein Zeichen, damit sie ihm ein weiteres Glas Wein einschenkte. Nach einer Weile des Schweigens wurden die Gespräche am Tisch wieder aufgenommen: die meisten drehten sich um Rollen, Drehbücher und diverse Filmprojekte. Viele der Anwesenden schienen Schauspieler zu sein, Anfänger oder zweitrangige Darsteller; vielleicht aufgrund der entscheidenden Rolle, die der Zufall in ihrem Leben spielt, fallen Schauspieler, wie ich oft bemerkt hatte, allen möglichen Sekten, seltsamen Glaubensgemeinschaften oder abstrusen geistigen Lehren zum Opfer. Erstaunlicherweise hatte mich keiner von ihnen wiedererkannt, worüber ich eher erleichtert war.
    »Harley de Dude was right…«, sagte der Prophet nachdenklich. »Life is basically a conservative Option …« Ich fragte mich eine Weile, an wen er sich richtete, ehe mir klar wurde, daß er das zu mir gesagt hatte. Er faßte sich wieder und fuhr auf französisch fort: »Weißt du, Daniel«, sagte er mit ungespielter Traurigkeit, die mich bei ihm überraschte, »die Menschheit hat nur ein Ziel, und das besteht darin, sich fortzupflanzen, damit der Mensch nicht ausstirbt. Auch wenn dieses Ziel selbstverständlich völlig unbedeutend ist, verfolgt sie es mit unglaublicher Hartnäckigkeit. Die Menschen sind zwar unglücklich, furchtbar unglücklich, aber sie sträuben sich mit aller Kraft, etwas zu tun, das ihr Schicksal ändern könnte: Sie wollen Kinder, Kinder, die ihnen gleichen, um ihr eigenes Grab zu graben und die Bedingungen des Unglücks fortbestehen zu lassen. Wenn man ihnen vorschlägt, eine Wandlung zu vollziehen, auf einem anderen Weg weiterzugehen, muß man mit brutaler Ablehnung rechnen. Ich mache mir keinerlei Illusionen über die Jahre, die vor uns liegen: Je größer die Chancen werden, unser Projekt technisch verwirklichen zu können, desto größer wird der Widerstand, den man uns entgegenbringt; alle intellektuelle Macht liegt in den Händen der Anhänger des Status quo. Der Kampf wird schwierig, äußerst schwierig werden …« Er seufzte, leerte sein Weinglas und schien in tiefes Grübeln zu verfallen, es sei denn, er kämpfte nicht nur gegen seine Apathie an. Vincent beobachtete ihn mit verschärfter Aufmerksamkeit, während der Prophet zwischen Mutlosigkeit und Unbekümmertheit zu schwanken schien, zwischen der Anziehungskraft des Todes und den Luftsprüngen des Lebens; er glich immer mehr einem müden alten Affen. Nach zwei oder drei Minuten richtete er sich wieder auf seinem Stuhl auf und ließ, wieder etwas lebendiger, seinen Blick über die Anwesenden schweifen; erst in diesem Augenblick bemerkte er, wie ich vermute, Francescas Schönheit. Er gab einer der Bräute — einer Japanerin —, die uns bedienten, einen Wink und flüsterte ihr etwas ins Ohr; sie näherte sich der Italienerin und übermittelte ihr die Botschaft. Francesca sprang entzückt auf, ging, ohne ihren Gefährten mit einem Blick zu Rate zu ziehen, auf den Propheten zu und setzte sich links neben ihn.
    Gianpaolo richtete sich mit völlig unbewegtem Gesicht auf seinem Stuhl auf; ich wandte den Blick ab, sah aber, ohne es zu wollen, wie der Prophet dem Mädchen mit der Hand durchs Haar fuhr; sein Gesicht war erfüllt von kindlicher, greisenhafter oder wenn man will gerührter Verzückung. Ich senkte den Blick und starrte auf meinen Teller, doch nach etwa dreißig Sekunden war ich den Anblick meiner Käsestücke leid und riskierte einen Seitenblick: Vincent starrte weiterhin schamlos und wie mir schien mit einem gewissen Frohlocken den Propheten an; dieser hatte Francesca jetzt die Hand in den Nacken gelegt, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter. In dem Augenblick, als er die Hand in ihre Bluse gleiten ließ, warf ich Gianpaolo unwillkürlich einen Blick zu: Er hatte sich noch ein wenig höher auf seinem Stuhl aufgerichtet, und ich sah, wie seine Augen vor Wut funkelten, ich war nicht der einzige, der das wahrnahm, denn alle Anwesenden waren verstummt; dann ließ er sich besiegt wieder auf den Stuhl gleiten und senkte den Kopf. Nach und nach kamen die Gespräche wieder in Gang, erst mit leiser Stimme, dann wieder normal. Der Prophet verließ den Tisch in Begleitung von Francesca, noch ehe der Nachtisch serviert war.
    Am folgenden Tag begegnete ich ihr nach dem

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