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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Houellebecq
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morgendlichen Vortrag, sie unterhielt sich gerade mit einer italienischen Freundin. Ich verlangsamte den Schritt, als ich auf ihrer Höhe war, und hörte, wie sie sagte: »Communicare … « Ihr Gesichtsausdruck war heiter und freudig, sie wirkte glücklich. Das Seminar hatte jetzt seinen normalen Tagesrhythmus angenommen: Ich hatte beschlossen, mir die Vorträge des Vormittags anzuhören, auf die Workshops am Nachmittag jedoch zu verzichten. Ich schloß mich den anderen bei der Meditation an, die direkt vor dem Abendessen stattfand. Ich bemerkte, daß Francesca schon wieder neben dem Propheten saß und daß sie nach dem Essen gemeinsam fortgingen; Gianpaolo dagegen hatte ich den ganzen Tag nicht gesehen.
    Im Eingang einer der Höhlen war eine Art Teebar eingerichtet. Dort traf ich Flic und den Humoristen, die beide einen Lindenblütentee vor sich stehen hatten. Flic sprach sehr lebhaft und begleitete seine Worte mit energischen Gesten, er war bei einem Thema, das ihm offensichtlich sehr am Herzen lag. Der Humorist erwiderte nichts, bewegte nur mit besorgter Miene den Kopf hin und her und wartete wohl darauf, daß Flic sich besänftigte. Ich ging zu dem Elohimiten, der für die Wasserkessel zuständig war; ich wußte nicht, was ich trinken sollte, ich habe Kräutertees schon immer gehaßt. Aus lauter Verzweiflung entschied ich mich für eine heiße Schokolade: Der Prophet duldete den Genuß von Kakao, vorausgesetzt, er war stark entölt — vermutlich als Huldigung an Nietzsche, dessen Gedankengut er bewunderte. Als ich an ihrem Tisch vorbeiging, verstummten die beiden Männer; Flic warf einen strengen Blick auf die Anwesenden. Er winkte mich lebhaft herbei und forderte mich auf, mich zu ihnen zu setzen, die Aussicht auf einen neuen Gesprächspartner hatte ihm offensichtlich wieder neue Kraft eingeflößt.
    »Ich habe gerade zu Gerard gesagt«, begann er (so so, selbst dieser arme Teufel besaß also einen Vornamen und hatte bestimmt auch Angehörige gehabt, vielleicht sogar liebevolle Eltern, die ihn auf ihrem Schoß hüpfen ließen, das Leben war wirklich schwer, wenn ich weiter an solche Dinge dachte, würde ich mir noch eine Kugel in den Kopf jagen, da gab es keinen Zweifel), »ich habe gerade zu Gerard gesagt, daß wir meines Erachtens viel zu viel mit dem wissenschaftlichen Aspekt unserer Lehre werben. Es gibt innerhalb der New-Age-Bewegung eine ganze ökologische Richtung, die alle Techniken, die einen Eingriff in die Natur darstellen, entsetzt zurückweist, da sie gegen die Beherrschung der Natur durch den Menschen ist. Das sind Leute, die die christliche Tradition entschieden ablehnen und oft dem Heidentum oder dem Buddhismus nahestehen; wir könnten unter ihnen potentielle Sympathisanten haben.«
    »Andererseits«, sagte Gerard gewitzt, »haben wir dann die Technikfreaks auf unserer Seite.«
    »Ja …«, erwiderte Flic zweifelnd. »Aber das sind vor allem Typen in Kalifornien, in Europa gibt's davon nicht viele, das schwör ich dir.« Er wandte sich erneut an mich: »Was meinst du dazu?«
    Ich wußte nicht recht, was ich dazu sagen sollte, ich hatte den Eindruck, daß die Zahl der Leute, die die Gentechnik befürworteten, auf Dauer größer sein würde als deren Gegner; doch ich wunderte mich vor allem darüber, daß sie mich schon wieder als Zeugen für ihre inneren Widersprüche nahmen. Mir war noch nicht bewußt geworden, daß sie mir aufgrund meiner Arbeit im Showbusineß eine intime Kenntnis der öffentlichen Meinung und der Wandlungen, die sich in ihr vollzogen, unterstellten; ich sah nicht ein, warum ich sie eines Besseren belehren sollte, und nachdem ich ein paar banale Bemerkungen gemacht hatte, die sie sich respektvoll anhörten, gab ich vor, müde zu sein, stand lächelnd auf und verließ mit federndem Schritt die Höhle. Ich ging auf das Zeltdorf zu, weil ich Lust hatte, mir die einfachen Anhänger der Sekte etwas näher anzusehen.
    Es war noch ziemlich früh, niemand war schlafen gegangen; die meisten saßen im Schneidersitz vor ihren Zelten, im allgemeinen allein, seltener in Paaren. Viele waren nackt (die Freikörperkultur war zwar für die Elohimiten keine Pflicht, wurde aber von vielen praktiziert; unsere Schöpfer, die Elohim, die das Klima auf dem Planeten, von dem sie stammten, perfekt zu regulieren verstanden, liefen im übrigen nackt herum, wie es sich für stolze, freie Wesen schickt, die alle Schuldgefühle und alle Scham überwunden haben; die Spuren von Adams Erbsünde waren

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