Die Mission des Wanderchirurgen
jegliche Nahrung. ‚Ich will nur noch sterben‘, sagte sie wieder und wieder. Und dann verriet sie uns ihren Namen und ihre Herkunft, und wir konnten kaum glauben, wen wir vor uns hatten. Kaum glauben konnten wir’s. Und dann, kurz bevor sie ihren letzten Atemzug tat, bat sie uns, sie in dem kleinen Gärtchen hinterm Haus zu begraben, und wir mussten bei der heiligen Mutter Maria schwören, niemals etwas über sie zu verraten. Niemals. ‚Der Schande wegen‘, wie sie sagte. Doch heute, angesichts meines nahenden Todes, muss ich es tun. Ich kann sonst nicht in Ruhe sterben …‹«
Nina endete und stellte zu ihrem Erstaunen fest, dass Pater Thomas’ Gesichtszüge bebten.
»Was du da sagst, ist von ungeheurer Tragweite, meine Tochter, von ungeheurer Tragweite!«, rief er. »Es gab in unserem Kloster einen Jungen, den der alte Abt Hardinus im Gebüsch vor dem Klostertor gefunden hatte, eingewickelt in ein rotes Damasttuch. Wir nannten ihn Vitus, und er wuchs in unseren Mauern auf. Er war im Fach der Cirurgia der begabteste Schüler, den ich jemals hatte!«
»Ich weiß, ich kenne ihn doch, Vater. Was glaubt ihr, warum ich sofort hierher gerannt bin, nachdem Tonia mir das alles erzählt hatte.«
»Großer Gott, ich bräuchte einen Stuhl, wenn ich nicht schon säße! Vitus zog hinaus in die Welt, auf der Suche nach seiner Familie. Er glaubt, sie in England gefunden zu haben. Und wenn er sich nun doch geirrt hat? Höre, Nina, nannte die alte Tonia den Namen der Mutter?«
»Nein, bisher noch nicht.«
»Ich muss sofort zu ihr. Nach so vielen Jahren könnte der Schleier über Vitus’ Herkunft endlich gelüftet werden und das letzte Glied in der Beweiskette gefunden sein. Wenn der alte Abt Hardinus das noch erlebt hätte! Ich muss sofort zu Tonia und mit ihr sprechen. Anschließend geht ein Bote nach Greenvale Castle. Noch heute. Hoffentlich trifft er Vitus dort an!«
Und Pater Thomas, der Arzt und Prior von Campodios, fiel auf die Knie, und er spürte den harten Stein unter sich nicht, während er aus tiefstem Herzen betete:
»Oh, Herr, wie unverständlich sind Deine Wege,
wie unergründlich ist Dein Ratschluss,
wie unantastbar Dein ewiger Wille,
doch wollen wir Menschen an Dir nicht zweifeln,
sondern Dich loben heute und immerdar.
Amen.«
»Amen«, wiederholte Nina.
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Die Gebieterin Âmina Efsâneh
»Bei Allah, dem Kämpfenden, dem Listigen!
Du hast mich benutzt wie eine Bodenvase,
in die du deinen Stängel hineingestoßen hast.
Das wirst du mir büßen!«
N iemand in der Medina von Tanger konnte sich daran erinnern, jemals so heiße Maitage erlebt zu haben. Der stete Wind, der gewöhnlich vom Dschebel al-Tarik über die Meerenge heranwehte, schien für immer eingeschlafen zu sein. Schon am frühen Vormittag stand die Luft wie eine Mauer auf den zahllosen Plätzen, erdrückte jegliche Betriebsamkeit, schnürte der Stadt den Atem ab. Wo sonst gelärmt, gefeilscht und gegaukelt wurde, wo Geldwechsler ihre Kurse priesen, Trickdiebe betrogen, Schreiber ihre Dienste anboten, wo Trommler, Hornbläser und Flötisten musizierten, Magier und Jongleure Sprachlosigkeit verbreiteten, wo Schiffsmatrosen zechten, Huren nach Freiern Ausschau hielten, Sklaven den Besitzer wechselten, wo Fischer ihren Fang verkauften und Handwerker ihrem Tagewerk nachgingen, überall da herrschte Stille. Gassen, Gässchen, Hinterhöfe waren wie leer gefegt. Wer dennoch sein Haus verließ, glaubte, in der Gluthitze die Steine der Zitadelle hoch über der Stadt knacken zu hören.
Am Fuße der alten Festung, auf einem kleinen vorgelagerten Souk, gab es eine einzige Ausnahme. Fünfundzwanzig oder dreißig Männer hockten in typischer Haltung am Boden, einfach gekleidet, bärtig, den Kopf durch einen Turban geschützt. Sie saßen starr, wie gelähmt, doch war der Grund dafür nicht die alles versengende Glut, sondern ein kleiner, drahtiger Mann, der vor ihnen stand und mit Händen und Füßen redete. Er bediente sich dabei des Spanischen, was durchaus verstanden wurde, denn Tanger gehörte anno 1579 zum portugiesischen Reich. Der Mann hatte eine marokkanische Dschellabah an, eine Art lange Tunika, braun-weiß gestreift, mit halblangen Ärmeln und Kapuze, doch war er kein Berber und auch kein Beduine, wie seine Gesichtszüge verrieten. Seine Haut wies nicht das tiefe Braun der Wüstensöhne auf, sondern eher die Farbe von Oliven. Seine Stirn war hoch, und seine Augen waren schwach. Er blinzelte häufig, weil er kurzsichtig war und die
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