Die Mission des Wanderchirurgen
sag’s doch!«
»Mach’s nicht so spannend!«
»Nun, Freunde, die Jungfrau war gänzlich hohl, in den Mantelhälften blinkten Dutzende nach innen gerichtete Stacheln und Klingen. Um zu erfahren, was das zu bedeuten hatte, blickten wir abermals in das Buch. Und dort stand:
›… der Haerethiker mag sein letztes Sprüchlein sagen, bis dass die Jungfrau sich schließet und ihn vielthausendfach durchbohret. Solcherart perforirt zu werden, ist als der ‚Kuss der Jungfrau‘ bekannt.‹
Mittlerweile hatte sich das Rauschen verstärkt, es war jetzt so mächtig wie ein Wasserfall. ›Ich glaube, ich weiß, was die Ursache ist‹, sagte mein Freund und Leidensgefährte, ›es ist der Pajo, der unter uns fließt. In dem Buch steht auch, dass der Delinquent beim Schließen des Mantels zerstückelt wird, woraufhin er nach unten in fließendes Wasser fällt und seine Überreste fortgeschwemmt werden.‹
Ich entgegnete: ›Wenn das so ist, muss es hier irgendwo etwas geben, das eine Falltür oder etwas Ähnliches auslöst. Wahrscheinlich außerhalb der Dame, irgendwo hier im Raum.‹ Ich blickte mich suchend um, dann entdeckte ich einen hölzernen Hebel, der aus dem Mauerwerk neben der Jungfrau herausragte. Ich zog daran. Mit lautem Knarren schwang der Boden unter der Figur beiseite. Der junge Lord und ich traten an den Rand der Öffnung und starrten nach unten, im Bemühen, etwas zu erkennen. Doch wir blickten nur in finstere, völlig gegenstandslose Schwärze.
›Wie tief man wohl fällt?‹, fragte ich meinen Leidensgefährten. Ich bekam keine Antwort. Beide dachten wir dasselbe: Wer hier noch bei lebendigem Leibe nach unten fiel, kam spätestens im Fluss durch Ertrinken zu Tode. Eine Flucht war unmöglich. Schweren Herzens gingen wir wieder zurück in unsere Zelle.«
Ein jüngerer Mann, der auf der Brust eine Kette mit der Fatima-Hand trug, rief: »Aber ihr seid doch geflohen, sonst wärest du nicht hier? Oder ist alles, was du uns erzählst, nicht mehr als ein Märchen aus
Alf laila waleila?«
»Aus was?« Der Magister blinzelte verständnislos.
»Alf laila waleila!«
Der junge Mann lächelte spöttisch. »Ihr Ungläubigen nennt dieses Werk
Tausendundeine Nacht
.«
»Selbstverständlich ist alles, was ich erzähle, die reine Wahrheit! Aber wenn du an meinen Worten zweifelst, kann ich ja aufhören.«
»Bei Allah, dem Erbarmer, dem Barmherzigen, nein!« Der Jüngling wirkte plötzlich sehr beunruhigt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine vorlaute Bemerkung so drastische Folgen haben könnte. Überdies spielte es keine Rolle für ihn, ob die Geschichte erfunden war oder nicht, Hauptsache der Erzähler fuhr fort. Denn er erzählte gut. Die Nebenmänner des Mannes dachten ähnlich und versetzten ihm ein paar Rippenstöße, damit er still sei.
Der Magister, dem das alles nicht entgangen war, wirkte versöhnt. »Nun, Freunde, ob ihr es glaubt oder nicht, wir flohen wenig später tatsächlich durch den eisernen Schoß der Jungfrau, stürzten uns in die reißenden Fluten des Pajo, der uns durch die halbe Stadt trieb, bis wir endlich in einem Teich landeten, glücklich und wohlbehalten, wenn man von den unzähligen Mückenstichen absieht, die wir im Uferschilf davontrugen. Wir konnten es zunächst nicht fassen, Freunde. Wir waren frei! Die Flucht vor den Häschern der Inquisition war gelungen. Die grausamen Torturen, die der junge Lord und ich in der Folterkammer ertragen mussten, hatten ein Ende! Nie wieder würden uns die Daumenschrauben angelegt werden, nie wieder würden wir auf dem Stachelstuhl sitzen, nie wieder würden wir mit dem Feuereisen gebrannt werden. Nie wieder …«
Ein empörter Ruf unterbrach die lebhaften Ausführungen. »Barbarisch, einfach barbarisch, das Verhalten der Ungläubigen!
Allah akbar!
Er hätte so etwas niemals zugelassen!«
Der Magister war für einen Moment verwirrt. Dann beschloss er, darüber hinwegzugehen. Es wäre unklug gewesen, darauf hinzuweisen, dass Gott und Allah seiner Meinung nach nur zwei anders lautende Namen für den Einen, den Allmächtigen, waren und dass der Glaube an ihn sich nur durch die Propheten und ihre Auslegungen unterschied. Und unklug wollte er nicht sein. Der Aufenthalt im Kerker von Dosvaldes reichte ihm für ein ganzes Leben. Wer weiß, dachte er, was die Muselmanen an Quälereien bereithalten, wenn man nicht fünfmal am Tag den Gebetsteppich ausrollt und ihn gen Mekka ausrichtet! Laut sagte er:
»Es ist Zeit für einen neuen Guss, Enano! Hinauf
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