Die Mission des Wanderchirurgen
fragte: »Wer soll denn überhaupt von diesem Seneca verspottet werden, Vater?«
»Nun, dazu muss man wissen, dass Seneca dem römischen Kaiser Claudius als Berater diente. Claudius war ein belesener Mann, von dem sogar einige wissenschaftliche Schriften überliefert sind. Er galt zeit seines Lebens als eigenwillig, harmlos und unkriegerisch. Sein herausragendstes Merkmal war aber wohl seine Schrulligkeit. Nachdem er gestorben war, schrieb Seneca deshalb eine Satire auf den Tod und die Vergöttlichung des Claudius. Nun weißt du Bescheid.«
»Ja, Vater. Und wie heißt die, äh, die Satire?«
»Das spielt doch keine Rolle. Doch warum soll ich es dir nicht sagen. Sie heißt
Apocolocyntosis Divi Claudii.
«
»Apo … Alopo …?«
»Ich sehe, du bist wirklich noch nicht weit fortgeschritten in der Sprache der Wissenschaft.
Apocolocyntosis Divi Claudii
heißt so viel wie die ›Verkürbissung des Kaisers Claudius‹.«
»Die … die was?« José verdrehte die Augen, blies die Backen auf und hielt sich die Hand vor den Mund. Doch er konnte den Lachanfall nicht mehr unterdrücken. Lauthals prustete er los: »Verkürbissung, Verkür … kürbissung … hoho, huhu, Verzeihung, Vater, aber das ist vielleicht ’n komisches Wort!«
Alle anderen fielen mit ein. Sogar Nina lächelte.
Pater Thomas musste sich eingestehen, dass er den Titel so noch niemals betrachtet hatte. Aber der Junge hatte Recht. Welch skurrile Wortschöpfung! Er spürte, wie das Lachen der Klasse ihn anzustecken drohte, und gestattete sich ein Schmunzeln. »Nun gut«, sagte er, »ich merke schon, ihr könnt euch nicht mehr richtig konzentrieren, wechseln wir deshalb das Fach.« Er wartete eine Weile, bis sich alle beruhigt hatten, und sagte dann: »Wo wir gerade von Kürbissen reden – weiß jemand, wozu diese Pflanze arzneilich nütze ist?«
Nina hob die Hand. »Kürbisfleisch ist gut für brennende Augen.«
»Sehr gut«, lobte Thomas. »Ein altes Hausrezept. Man schneidet dünne Streifen von der Schale ab und legt sie behutsam auf den Augapfel. Am besten, wenn der Patient liegt. Aber das ist beileibe noch nicht alles, was die Kürbispflanze
Cucurbita
kann.« Er blickte fragend in die Runde.
Als keine Antwort kam, fuhr er fort: »Aus den Kernen lässt sich ein treffliches Öl pressen. Es wirkt gut gegen Würmer in den Eingeweiden. Ebenfalls ein altes Hausrezept. Wozu sind Kürbissamen außerdem nütze?« Er wartete. »Nun, da ihr es nicht wisst, will ich es euch sagen. Wer regelmäßig dreimal täglich eine Hand voll davon kaut, kann …« Er unterbrach sich, denn er spürte, wie Nina ihn unverwandt ansah. Sie hörte genau zu. Das machte ihn ein wenig verlegen, denn er war im Begriff, auf die Schwierigkeiten des Wasserlassens bei alten Männern zu kommen. Seltsam, fuhr es ihm durch den Kopf, wenn statt ihrer dort eine breithüftige Bäuerin säße, würde mir das nichts ausmachen. Nicht das Geringste! Ob es daran liegt, dass sie so jung und hübsch ist? Er schob die lästigen Gedanken beiseite und sprach betont sachlich weiter: »… kann wirksam dafür sorgen, dass sein Wasser besser abfließt. Ich meine damit besonders die betagten Herren, die häufig Schmerzen dabei verspüren. Wir Ärzte nennen das ›schneidend Wasser‹. Wohl jeder hat in seiner Familie jemanden …« Er fuhr herum, denn die Tür war unvermittelt aufgerissen worden. Auf der Schwelle stand Bruder Castor, der greise Torsteher, neben sich einen halbwüchsigen Burschen, der seine Kappe in den Händen drehte.
»Der junge Mann hier ließ sich nicht fortschicken«, sagte Castor mit seiner brüchigen Stimme.
»Und was will er?« Pater Thomas klang wenig freundlich. Er schätzte es nicht, wenn sein Unterricht gestört wurde.
Castor winkte Thomas zu sich heran. »Das will er nur dir sagen, Bruder. Na, mir soll’s egal sein, ich muss zurück, das Tor bewacht sich nicht von allein.«
»Ich heiße Felipe«, sagte der Bursche draußen auf dem Gang und drehte weiter seine Kappe. »Die alte Tonia schickt mich. Tonia, die Stoffweberin …«
»Ja? Was ist mit ihr?« Thomas kannte die Frau, die regelmäßig in die Klosterkirche zum Beten kam.
»Ich soll sagen, ich soll sagen …« Die Kappe drehte sich jetzt noch schneller. Felipe senkte die Stimme. »Ich soll sagen, sie hat einen großen Klumpen in der Brust, und der tut höllisch weh, soll ich sagen. Tonia liegt zu Bett, Schweiß auf der Stirn, es geht ihr schlecht, ganz schlecht. Und sie hat kein Geld für den Bader, und
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