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Die Mission des Wanderchirurgen

Die Mission des Wanderchirurgen

Titel: Die Mission des Wanderchirurgen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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aber noch schwieriger ist es, gute, feste Stoffe zu beschaffen, aus denen Mutter und ich Hosen, Hemden und Röcke nähen können. Denn irgendwann, wenn es das dritte oder vierte Mal an den Nächstjüngeren weitergegeben wurde, ist auch das beste Beinkleid zerschlissen. Stoffe sind teuer, wisst Ihr, und wenn der Winter lang ist, so wie dieser es war, werden sie nur immer noch teurer. Tonia hat uns manches Mal mit Leinen ausgeholfen und beileibe nicht immer gleich auf Bezahlung gepocht.«
    Thomas nickte. Ihm fiel auf, dass Nina ein einfaches, hübsch anzusehendes Kleid mit einem warmen Brusttuch darüber trug. Beides, das dunkelblaue Kleid und das weiße Tuch, standen ihr sehr gut.
    »Ich mag sie.«
    »Wen? Ach so, Tonia, natürlich.«
    »Wir müssen uns jetzt rechts halten, Vater, sonst kommen wir direkt nach Punta de la Cruz, und das wäre falsch.« Nina bog ab und wanderte zielstrebig in ein kleines Wäldchen hinein. Nach wenigen hundert Schritten machte sie Halt und wies auf ein windschiefes Holzhaus, dessen verwahrlostes Äußeres darauf hindeutete, dass in seinen Wänden schon lange kein Mann mehr wohnte.
    Als Thomas das baufällige Gebäude betrat, mussten seine Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Er verweilte für einen Moment, blickte um sich, entdeckte einen hölzernen Webstuhl zu seiner Linken und im hinteren Teil des Raums eine Bettstatt aus Stroh. Darauf lag Tonia, die sich nun mühsam aufrichtete. »Seid Ihr es, Pater Thomas?«
    Der Arzt trat ans Krankenlager, und die Alte versuchte, seine Hand zu ergreifen und diese zu küssen. Mit furchtsamer Stimme flüsterte sie: »Gottes Segen über Euch, dass Ihr gekommen seid!«
    Thomas zog seine Hand zurück. »Leg dich nur wieder hin, Abuela«, sagte er und hoffte, dass die Anrede »Großmutter« die Kranke ein wenig beruhigen möge. »Mach dir keine Sorgen, wie du siehst, bin ich nicht allein gekommen. Nina ist bei mir, sie wird mir, wenn nötig, zur Hand gehen.«
    Die Stoffweberin nickte Orantes’ Tochter dankbar zu. »Du bist ein gutes Kind, ein gutes Kind …«
    Thomas setzte das Tragegestell ab und war weiter um einen freundlichen, Vertrauen erweckenden Ton bemüht: »Felipe sagte mir, du hättest einen Klumpen in der Brust. Ich werde dich deshalb sorgfältig abtasten müssen, Abuela, auch wenn es dir unangenehm ist. Es wird nicht wehtun. Denke daran, dass es die Hände des Heilkundigen sind, die dich berühren. Sei zuversichtlich. Denn schon bei Moses in der Bibel steht:
Ich bin der Herr, dein Arzt,
und wenn Gott in seiner Barmherzigkeit es will, so wirst du wieder gesund.«
    Während er das sagte, war er zu den beiden kleinen, mit Tierhäuten verhängten Fenstern geschritten und ließ Licht herein. Dann überprüfte er die Kochstelle in der Ecke des Raums und stellte fest, dass nur noch wenig Glut vorhanden war. »Nina, lege etwas Holz nach und fache das Feuer an. Dort liegt ein Blasebalg.«
    »Ja, Vater.«
    »Zuerst aber entzünde ein paar Kerzen, es muss hell sein für die Untersuchung.«
    Nina tat, wie ihr geheißen.
    »Und nun zu dir, Abuela. Am besten, wir ziehen dir das Hemd über den Kopf. Ja, so … richte dich ein wenig auf … das genügt. Nein, du brauchst gar nichts weiter zu tun.« Thomas legte der Kranken behutsam die Hand auf die Stirn, konstatierte eine erhöhte Körpertemperatur, griff nach dem Puls und stellte fest, dass dieser sehr unruhig war. Die Kranke schien noch immer von Angst geplagt zu sein. »In welcher Brust sitzt denn die Geschwulst«, fragte er wie nebenbei, nur um irgendetwas zu sagen, denn er hatte längst erkannt, dass der Knoten sich rechts befand.
    Stumm wies die Alte auf die Stelle.
    Thomas begann mit der Tastuntersuchung. Im Gegensatz zu der erschlafften, welken Brust fühlte der Knoten sich fest und elastisch an. Er befand sich oberhalb der Brustwarze, dicht unter der Haut, und er war so groß wie eine Kinderfaust. Thomas versuchte, ihn hin und her zu schieben, doch das misslang. Ein weiterer Versuch schlug ebenfalls fehl. Ein störrisches Stück! Andererseits lag darin ein Vorteil. Mit ein wenig Glück konnte er den Knoten mit der Fasszange ergreifen, nach oben herausdrücken und ihn dann von dem umgebenden Gewebe abtrennen. Die andere Methode war radikaler. Sie sah die gesamte Amputation der Brust vor, eine Maßnahme, die von vielen der alten Meister empfohlen wurde. Denn falls das Gewebe bösartig war, wurde es auf diese Weise besonders weiträumig herausgeschnitten. Man nahm zwei lange, leicht

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