Die Mission des Zeichners
Wohlstand zur Schau, der Spandrel restlos davon überzeugte, mitten in das Herz der Handelsgemeinde dieser Stadt getreten zu sein. Die de-Vries-Residenz, die der Kutscher anscheinend gut kannte, ähnelte zum größten Teil den benachbarten Häusern: Eine breite Treppe führte zu einem auf Höhe des Hochparterre liegenden Eingangsportal mit prächtigem Torbogen. Als er von der Straße unten hinaufstarrte, bemerkte Spandrel die aus den Speicherfenstern ragenden Balken für die Flaschenzüge. Jedes Haus hier hatte eine solche Vorrichtung. Sein Blick folgte ihnen bis um die Kanalbiegung. Plötzlich und höchst unwillkommen befiel ihn die Vorstellung, dass sie wie eine Reihe Fleischerhaken am Smithfield-Markt aussahen, die auf neue Kadaver warteten. Eilig verwarf er diesen Gedanken und erklomm die Treppe.
Ein älterer Lakai öffnete die Tür. Mit verkniffener Miene musterte er ihn von oben herab, als spürte er schon, dass Spandrel nicht bedeutend genug war, um eine respektvolle Behandlung zu verdienen. Da er offenbar kein Englisch konnte, behalf sich der Kerl mit Grimassen und Gesten. Er ließ Spandrel nicht weiter als in die mit Marmor geflieste Vorhalle herein, wo er ihm bedeutete, auf einem niedrigen Stuhl Platz zu nehmen, der von einer riesigen orientalischen Vase auf einem Gestell buchstäblich überschattet wurde.
Fünf Minuten verstrichen, exakt von einer Standuhr mit massivem Gehäuse abgemessen, der Spandrel gegenüber saß. Dann erschien ein großer dunkeläugiger Mann, ungefähr in Spandrels Alter. Er hatte einen aufmerksamen, besorgten Gesichtsausdruck und war tadellos, wenn auch schlicht gekleidet. Zugleich hatte er aber auch etwas Gelangweiltes an sich, ein seinem Rang nicht gebührendes, überhebliches Gebaren. Und in diesen tief liegenden Augen war noch etwas anderes, das Spandrel beunruhigte. Er konnte es nicht benennen, und gerade das war es, was ihn erschreckte.
»Mr. Spandrel«, begann der Mann in perfektem, wenn auch mit leichtem Akzent behaftetem Englisch, »mein Name ist Zuyler. Ich bin Mijnheer de Vries' Sekretär.«
»Ist Mijnheer de Vries zu Hause?«
»Zu meinem Bedauern - nein.«
»Ich muss ihn sprechen. Es geht um eine Angelegenheit von äußerster Wichtigkeit.«
»Ich verstehe.« Zuyler warf einen flüchtigen Blick auf die Tasche. »Sie werden erwartet. Nur war ihre Ankunftszeit niemandem bekannt. Und Mijnheer de Vries ist ein viel beschäftigter Mann.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich habe die Anweisung, Sie zu bitten, hier zu warten, bis ich ihn geholt habe. Er ist im Oost Indisch Huys. Das ist nicht weit von hier. Aber ich kann nicht sagen, wie... wie sehr er bei meinem Eintreffen in... Geschäfte vertieft sein wird. Trotzdem...«
»Ich warte.«
»Gut. Hier entlang bitte.«
Zuyler führte Spandrel in einen weit hinten gelegenen Raum, der eindeutig de Vries' Bibliothek sein musste. Von oben bis unten mit schweren Bänden gefüllte Regale säumten die Wände, und die Fenster waren gegen »Schäden durch grelles Sonnenlicht« verhängt, was Spandrel angesichts des grauen Wetters als eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme erschien. Da kam doch sicher mehr Licht von dem Feuer im Kamin als von der Welt hinter den Fenstern.
»Ich komme so bald wie möglich zurück«, versprach Zuyler. Im nächsten Moment war er wie vom Erdboden verschluckt. Lautlos und beängstigend schnell war er hinausgeschlüpft.
Spandrel sah sich um. Auf den oberen Regalen der Bücherschränke waren die Büsten historischer Gestalten aus der Antike aufgereiht. Prächtig eingerahmte Ölgemälde von weniger alten Persönlichkeiten - größtenteils holländische Bürger -nahmen die Fläche zwischen ihnen und der Stuckdecke ein. Über dem Spiegel in der Nähe des Kamins hing ein Gemälde von ganz anderer Art. Es zeigte ein Schloss in einer tropischen Landschaft mit von einem imaginären Wind gebeugten Palmen. Der Kamin wurde von einem Sofa und einem Sessel flankiert. Vor einem der Fenster sah man einen Schreibtisch. Ein weiterer Tisch neben einem Teil des Bücherregals bestand aus vielen Schubladen für Landkarten. Spandrel war versucht, sie herauszuziehen und sich genauer anzusehen, was sie enthalten mochten, widerstand jedoch. Er hatte nicht vor, in diesem Haus für Komplikationen zu sorgen. Im Gegenteil, er wollte so wenig wie möglich über seinen Eigentümer erfahren; und dieser Eigentümer wiederum sollte so wenig wie möglich über ihn erfahren.
Aber das war leichter gedacht als getan. Auch hier begleitete
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