Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
versuchte die Kleine mit den Zehen stoßend und der Ferse schiebend das Kupfer auf ihre Seite zu schaffen. Doch im letzten Augenblick hinderte sie das lange Bein der Schwester. Die Länge ihrer Beine und ihre schmalen, grazilen Füße bewunderte Helene an Martha. Aber die Entschlossenheit, mit der Martha scheinbar mühelos die Wärmflasche für sich beanspruchte und Helenes Begehrlichkeiten zurückwies, ließ Helene verzweifeln. Sie stemmte ihre Hände gegen den Rücken der Schwester und suchte mit den kalten Zehen einen Weg vorbei an den Beinen und Füßen unter der schweren Decke. Das Licht der Kerze flackerte, jeder Windstoß, ausgelöst vom Gerangel unter der Decke und ihrem plötzlichen Heben und Senken, bewegte die Flamme. Helene wollte lachen und weinen vor Ungeduld, sie presste die Lippen zusammen und umfasste die Schwester, das Nachthemd war hoch gerutscht und Helene gelangte mit ihrer Hand auf Marthas nackten Bauch, Marthas Hüfte, Marthas Schenkel. Helene wollte sie kitzeln, aber Martha wand sich, Helenes Hände glitten immer wieder ab und bald musste Helene sie kneifen, um auch nur etwas von Martha zu fassen zu kriegen. Es gab eine stillschweigende Abmachung zwischen beiden, keine durfte einen Laut von sich geben.
Martha schrie nicht, sie hielt Helenes Hände einfach fest. Ihre Augen glänzten. So stark sie konnte, drückte sie Helenes Hände zwischen ihren zusammen, es knackte, Helene fiepte, sie winselte, Martha presste, bis Helenes Widerstand erloschen schien und die Kleine immer wieder flüsterte: Lass los, bitte, lass los.
Martha lächelte, sie wollte jetzt gern eine Seite in ihrem Buch umblättern. Die blonden Wimpern der kleinen Schwester flatterten, ihre Augen barsten. Wie fein das Geäst der Adern ihre Augäpfel umspannte. Kein Zweifel, Martha würde Helene be gnadigen, früher oder später. Das alles wegen einer kupfernen Wärmflasche zu ihren Füßen. Helenes Flehen klang vertraut, es beruhigte Martha. Sie ließ die Hände der Kleinen los, wandte ihrer Schwester den Rücken zu und zog das Federbett mit sich.
Helene fror, sie setzte sich auf. Und obwohl ihre Hände noch schmerzten, streckte sie sie aus, berührte Marthas Schulter und fasste nach ihrem dicken Zopf, aus dem überall kleine Locken sprossen. Marthas Haar war wild und weich zugleich, nur wenig heller als das schwarze Haar der Mutter. Helene beobachtete es gern, wenn Martha die Mutter kämmen durfte. Die Mutter saß dann mit geschlossenen Augen da und summte ein Lied, das wie das Schnurren einer Katze klang, in verschiedenen Tonhöhen schnurrte sie behaglich, während Martha mit der Bürste das dicke und lange Fell der Mutter striegelte. Einmal stand Helene am Waschtisch, sie spülte das Laken, und als die Seife raus war, wrang sie es über dem großen Eimer aus. Sie gab acht, dass kein Wasser auf den Küchenboden spritzte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Mutter aufschrie. Sie schrie nicht hoch und hell, sondern tief und kehlig, mit der Inbrunst eines großen Tieres. Die Mutter bäumte sich auf. Ihr Stuhl, auf dem sie bis eben gesessen hatte, krachte zu Boden. Sie schubste Martha von sich, die Bürste fiel zu Boden. Unter heftigen und ziellosen Bewegungen der Arme schlug sie um sich, Spangen und Kämme flogen vom Tisch, sie trat nach dem Stuhl, fasste ihn, hob ihn hoch und schleuderte ihn in Helenes Richtung. Ihr Brüllen dröhnte, als habe die Erde ihren Schlund aufgerissen und grolle. Die auf dem Tisch liegenden Häkeleien flogen quer durch das Zimmer. Etwas hatte geziept.
Doch während die Mutter über ihre Töchter schimpfte, fluchte, sie habe eine nichtsnutzige Brut geboren, wiederholte Helene wie ein Gebet immer denselben Satz: Darf ich dich kämmen? Ihre Stimme zitterte: Darf ich dich kämmen? Als eine Schere durch die Luft flog, hob sie schützend die Arme über ihren Kopf: Darf ich dich kämmen? Und kauerte sich unter den Tisch. Darf ich dich kämmen?
Die Mutter hörte sie anscheinend nicht, erst als Helene schwieg, wandte sich die Mutter zu ihr um. Sie beugte sich nach vorn, um Helene besser unter dem Tisch sehen zu können, ihre grünen Augen blitzten. Bloß das nicht, schnaubte die Mutter. Sie richtete sich auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es ihr weh tun musste. Helene solle unter dem elenden Tisch hervorkommen. Sie sei noch ungeschickter als die Große. Die Mutter betrachtete das kriechende, sich umständlich aufrichtende Mädchen mit seinen hellen, goldenen Locken wie eine
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