Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
ließen sich von der Menschenmasse schieben, bis sie den Bahnsteig erreichten. Eine Frau schrie laut, man hatte ihr Gepäck gestohlen. Erst jetzt fiel Peter auf, dass sie die Schwangere verloren hatten. Vielleicht war sie in Scheune gar nicht zurückgekehrt, nachdem sie wegen ihrer Notdurft hatte verschwinden müssen? Peters Mutter lief nun schnell, Menschen kamen ihnen entgegen und standen ihnen im Weg, Peter wurde immer wieder angerempelt und hielt sich umso fester am Mantel seiner Mutter.
Du wartest hier, sagte seine Mutter, als sie an eine Bank kamen, wo in diesem Augenblick ein alter Mann aufgestanden war. Von hier fahren Züge nach Anklam und Angermünde, vielleicht gibt es Fahrkarten. Ich bin gleich zurück. Sie nahm Peter bei den Schultern und drückte ihn auf den Sitz.
Ich hab Hunger, sagte Peter. Lachend klammerte er sich an ihren Armen fest.
Ich bin gleich zurück, wart hier, sagte sie.
Und er: Ich komm mit.
Und sie: Lass mich los, Peter. Doch er stand schon auf, um ihr zu folgen. Nun drückte sie ihm den kleinen Koffer entgegen und presste ihn mitsamt dem Koffer auf die Bank zurück. Peter musste jetzt den Koffer auf dem Schoß festhalten, er konnte nicht mehr nach ihr greifen.
Du wartest. Das sagte sie streng. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, sie strich ihm über die Wange, und Peter war froh. Er dachte an die Bockwürstchen, die die Dame in Scheune ausgerufen hatte, vielleicht gab es hier welche, er wollte seiner Mutter suchen helfen, überhaupt helfen wollte er ihr, er öffnete den Mund, aber sie duldete keinen Widerspruch, sie drehte sich um und tauchte in der Menschenmenge unter. Peter spähte ihr nach und entdeckte ihre Gestalt hinten an der Tür zur Bahnhofshalle.
Er musste dringend und hielt Ausschau nach einer Toilette, aber er wollte warten, bis sie zurück war, schließlich konnte man sich auf solchen Bahnhöfen leicht verlieren. Langsam ging die Sonne unter. Peters Hände waren kalt, er hielt den Koffer fest und wippte mit den Knien. Kleine Farbpartikel vom Koffer klebten an seinen Händen, ochsenblutrot. Immer wieder blickte er in die Richtung der Tür, wo er seine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte. Menschen strömten vorüber. Die Laternen gingen an. Irgendwann stand die Familie neben ihm von der Bank auf und andere setzten sich. Peter musste an seinen Vater denken, der irgendwo in Frankfurt eine Brücke über den Main bauen würde, er wusste, wie er hieß, Wilhelm, aber nicht, wo er wohnte. Sein Vater war ein Held. Und seine Mutter? Auch ihren Namen kannte er, Alice. Sie hatte eine fragwürdige Herkunft. Peter schaute wieder zu der Tür, die in die Bahnhofshalle führte. Sein Hals war steif geworden, weil er nun schon Stunden so saß und in diese Richtung starrte. Ein Zug kam, die Menschen ergriffen Gepäckstücke, ihre Nächsten, alles musste festgehalten werden. Anklam, der Zug fahre nicht nach Angermünde, nach Anklam. Die Menschen waren zufrieden, solange es weiterging. Es war nach Mitternacht, Peter musste nicht mehr, er wartete nur noch. Der Bahnsteig hatte sich geleert, vermutlich waren die verbliebenen Wartenden in die Bahnhofshalle gegangen. Wenn es einen Fahrkartenschalter gab, hatte der nicht schon lange geschlossen? Vielleicht gab es gar keine Bahnhofshalle mehr hinter der Tür, womöglich war auch dieser Bahnhof wie der in Stettin zerstört worden. Am hinteren Ende des Bahnsteigs erschien eine blonde Frau, Peter stand auf, der Koffer klemmte jetzt zwischen seinen Beinen, er reckte sich, aber es war nicht seine Mutter. Eine Weile blieb Peter stehen. Als er wieder saß und an seinen Lippen nagte, hörte er seine Mutter sagen, er schäle und esse sich an allen möglichen Stellen seines Körpers, er sah ihren angeekelten Gesichtsausdruck vor sich. Irgendeiner, das sagte sich Peter, irgendeiner musste kommen. Peter fielen die Augen zu, er öffnete sie, er durfte nicht schlafen, sonst würde er nicht bemerken, wenn einer ihn suchen käme, er kämpfte gegen den Schlaf, dachte an die Hand und zog die Beine auf die Bank hinauf. Er legte den Kopf auf die Knie und ließ doch den Blick nicht von der Bahnhofstür. Als der Morgen graute, erwachte er mit Durst, und der nasse Stoff des Hosenbodens klebte an seiner Haut. Jetzt stand er auf, er wollte eine Toilette und Wasser suchen.
Die Welt steht uns offen
In einem Bett aus Metall, weiß emailliert, lagen zwei Mädchen und stießen abwechselnd mit ihren nackten Füßen gegen das heiße Kupfer der Wärmflasche. Immer wieder
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