Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Fremde.
Haare willst du kämmen. Die Mutter lachte böse. Pah, nicht mal die Wäsche kannst du richtig wringen! Die Mutter packte das Laken aus dem Eimer und schleuderte es zu Boden. Vielleicht sind dir deine Hände zu schade? Dem Eimer gab die Mutter einen kräftigen Tritt, und noch einen, bis er umfiel, scheppernd.
Unwillkürlich zuckte Helene zusammen, sie wich zurück. Die Mädchen kannten die Wutausbrüche ihrer Mutter, allein die Plötzlichkeit, dass es keinerlei Vorwarnung gab, ließ sie erschrecken. Winzige Bläschen zersprangen auf den Lippen der Mutter, neue bildeten sich, sie schillerten. Zweifellos, die Mutter schäumte, sie kochte. Geifernd erhob sie ihren Arm, Helene machte einen Schritt seitwärts und fasste nach Marthas Hand. Etwas streifte Helenes Schulter und klirrte und brach unter dem Schreien der Mutter am Boden entzwei. Glas zersprang. Tausend Splitter, abertausend. Helene flüsterte die unfassbare Zahl, die unbegreifliche, abertausend. Abertausend glitzerte. Unzählige Scherben lagen verstreut. Die Mutter musste ihre Vase aus böhmischem Glas vom Schrank gerissen haben. Helene wollte weglaufen, nur waren ihre Beine zu schwer.
Die Mutter krümmte sich, sie schluchzte und sank auf die Knie. Die Scherben mussten sich durch den Stoff ihres Kleides bohren, doch es kümmerte sie nicht. Sie durchfurchte mit ihren Händen die grünen Scherben und erstes Blut quoll zwischen ihren Fingern hervor, sie weinte wie ein Kind, zartes Stimm chen, fragte, ob denn kein verdammter Gott da sei, der ihr helfen wolle, sie wimmerte, und schließlich stammelte sie in einem fort den Namen Ernst Josef, Ernst Josef.
Helene wollte sich bücken, sich zu ihrer Mutter knien, sie trösten, aber Martha hielt sie entschlossen zurück.
Wir sind es, Mutter. Das sagte Martha streng und gefasst. Wir sind hier, Ernst Josef ist tot wie deine anderen Söhne auch, tot geboren, hörst du, Mutter. Zehn Jahre, tot. Aber wir sind da.
Aus Marthas Stimme klang die Empörung und Wut, es war nicht das erste Mal, dass sie der Mutter die Stirn bot.
Ah! Die Mutter brüllte, als ramme Martha ihr einen Dolch in die Brust.
Da zog Martha Helene mit sich aus dem Zimmer.
Widerlich, flüsterte Martha, das müssen wir uns nicht anhören, Engelchen, komm, wir gehen.
Martha legte ihren Arm um Helene. Sie gingen in den Garten und hängten die Wäsche auf.
Immer wieder hatte Helene hinauf zum Haus blicken müssen, wo durch das geöffnete Fenster das Klagen und Schreien der Mutter leiser und seltener geworden und schließlich gänzlich verstummt war, so dass Helene fürchtete, die Mutter sei nun verblutet oder habe sich noch Schlimmeres angetan.
Helene dachte weiter, als sie neben Martha im Bett saß, dass der Mutter das Schreien womöglich nur vor ihren Kindern gelang, allein musste es ihr zwecklos erscheinen. Was galt das Schreien schon ohne Gehör? Helene schüttelte sich vor Kälte und berührte den Zopf der Schwester, den Zopf, aus dessen Inneren Löckchen sprossen, fein und weich, der Schwester, die gut war, die sie im Zweifel beschützte.
Ich friere, sagte Helene. Bitte, lass mich unter die Decke.
Und sie war froh, als sich der Berg vor ihr öffnete und Martha ihre Hand ausstreckte, den Arm wie einen Stützpfeiler hob, damit Helene zu ihr unter die Federn schlüpfen konnte. Helene steckte ihre Nase in die Achselhöhle der Schwester, und als diese sich wieder zu ihrem Buch umdrehte, drückte Helene ihr Gesicht in Marthas Rücken, in tiefen Zügen atmete sie den warmen und vertrauten Geruch. Helene überlegte, ob sie ihr Abendgebet sprechen sollte. Sie konnte die Hände falten. Ihr war wohl zumute. Ein Gefühl von Dankbarkeit durchströmte sie, doch empfand sie es Martha gegenüber, nicht gegenüber Gott.
Im Schatten des Kerzenlichts spielte Helene mit Marthas Zopf. Der matte Schein ließ ihr Haar noch dunkler erscheinen als es war, fast schwarz waren die Locken. Helene streichelte sich mit Marthas Zopfende über die Stirn, die Haare kitzelten sie an den Wangen und an den Ohren. Martha blätterte eine Seite ihres Buches um und Helene begann mit dem Zählen der Sommersprossen auf Marthas Rücken. Jeden Abend zählte Helene Marthas Sommersprossen. War sie sich der Zahl auf der linken Schulter bis zum Muttermal über der Wirbelsäule sicher, schob sie den Zopf zur Seite und zählte rechts weiter. Martha ließ sich das gefallen, sie blätterte eine Seite um und kicherte leise.
Was liest du?
Nichts für dich.
Helene liebte das Zählen. Es war
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