Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
froh, dass sie ihre Prüfungen und Ergebnisse nicht erwähnte, sie nicht aufstehen, würdig in die Runde nicken und sich stolz zeigen mussten.
Carl lehnte sich zu Helene und sagte leise: Stolz ist etwas für Philister. Helene schlug die Augen nieder, sie gab ihm recht. In ihren Augen widersprach das behaglich stolze Nicken der Herren jeder Würde, obwohl es gerade um deren Darstellung ging.
Am fortgeschrittenen Abend stand Helene zwischen dem Baron und Pina Giotto. So sehr sie deren Geplauder nicht mehr ertragen konnte, so wenig wollte sie von ihrer Seite weichen, weil Erich sie über den ganzen Abend mit seinen gierigen Augen verfolgte. Durch die offene Tür der Veranda sah Helene, dass Carl dort mit Leontine, Martha und einem unbekannten Paar saß und sich unterhielt. Pina Giotto wollte den Baron überreden, mit ihr am nächsten Tag in eines der großen Kaufhäuser zu gehen, sie wünschte sich eine Federboa. Der Baron suchte Ausflüchte, vermutlich ahnte er, wie teuer eine solche Boa war. Boa Boa, Pina Giotto gab keine Ruhe. Feder Boa Boa Feder. Lange Federn, leichte Federn, glänzend oder matt? Pfauenfedern, fremde Feder, Federkleid. Helene musste vor lauter Federn an ihre Mutter denken. Im letzten Brief hatte es geheißen, es ginge ihr etwas besser. Keine Verwirrung mehr, Spaziergänge möglich. Es war gegen elf, als sich die ersten Gäste in den Flur begaben, sie ließen sich ihre Mäntel bringen. Die einen wollten zur Mitternachts-Revue, die anderen lockte es ins Ballhaus. Ihr kommt mit, bestimmte Fanny und verlor eine eingemeindende Geste über den Köpfen vom Baron, seinem Fräulein Giotto und Helene. Als Fanny unter ihren späten Gästen Helene erkannte, rief sie mit Lallen: Du auch, du alte Kanaille!
Helene hielt Ausschau nach Carl, doch in der Veranda saßen jetzt zwei Männer, die an dem niedrigen Tisch Armdrücken übten. Während das Fräulein Giotto dem Baron deutlich machte, dass der Brillant, den sie heute Mittag beim Juwelier gesehen hätten, eine schöne Größe habe und gut für eine einfache Kette geeignet sei, erfasste Helene eine Unruhe. Wohin sie auch sah, sie konnte weder Carl noch Martha und Leontine erblicken. Trotz der Gefahr, dass Erich ihr folgen würde, entschuldigte sie sich fast unhörbar und schlenderte so gelassen wie möglich durch die angrenzenden Zimmer. Nirgends konnte sie die Vermissten entdecken. Gerade als sie das Berliner Zimmer durchquert hatte und sich noch einmal umsah, zurücksah, entdeckte sie sich in Erichs Fadenkreuz. Er war ihr schon gefolgt und kam jetzt mit großen Schritten auf sie zu. Helene öffnete die Tür in den hinteren Teil der Wohnung. Das Licht im Flur ließ sich nicht anzünden, sie hastete an den ersten zwei Türen vorbei, als sie hinter sich Schritte hörte. Für einen Augenblick verschwand der Lichtkegel, der aus dem Berliner Zimmer zu ihr in den Flur fiel. Erich hatte die Tür geschlossen. Plötzlich panisch tastete Helene mit der Hand an der Tapete entlang, bis sie den Türrahmen und die Klinke spürte. Es musste ihr altes Zimmer sein, das, in dem Leontine und Martha wohnten. Stimmen und Lachen drangen durch die Tür. Erich hatte am anderen Ende des Flures offenbar die Orientierung verloren. Sie hörte sein Schnaufen. Doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Helene rüttelte an der Klinke.
Einen Augenblick, sagte eine Stimme aus dem Inneren des Zimmers. Es dauerte Sekunden, bis ihr geöffnet wurde. Martha ließ Helene eintreten.
Du bist es, Martha war offenbar erleichtert und bat Helene, sie möge schnell eintreten. Hinter Helene verschloss Martha die Tür. Ohne sich weiter um Helene zu kümmern, setzte sie sich auf das schmale Bett, auf dessen Rand Leontine mit der fremden Frau saß, die vorhin unter den anderen auf der Veranda gesessen hatte. Die fremde Frau trug die Federboa, von der Pina Giotto träumte. Dunkle, violette Federn brachten ihre markanten Wangenknochen und die schattigen Augen gut zur Geltung, eine feine Dauerwelle lag schmal am Schädel, ein wohlgeformter Schädel, lang. Carl saß mit dem Rücken zu Helene am Waschtisch, er stand jetzt auf und zeigte sich erstaunt, Helene zu sehen. Helene bemerkte, wie er die kleine silberne Dose unter seiner Hand auf dem Tisch zu dem fremden Mann schob, den Helene vorhin mit Blick auf die Veranda für den Ehemann der Frau gehalten hatte, die nun allerdings auf dem Bett saß und sich mit Leontine küsste. Die violetten Federn verdeckten Leontines Gesicht. Helene erschrak, als sie sich bewusst
Weitere Kostenlose Bücher