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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Bagatelle, die sie da am Sonntag klären müssten, gemeinsam, schließlich ging es um ihr gemeinsames Leben und all das, was noch vor ihnen lag.
    Helene musste beim Gehen aufpassen, dass sie nicht ausrutschte. Unter dem schmelzenden Schnee lag an manchen Stellen noch Eis. Vor der Gedächtniskirche musste sie lange warten, die Autos fuhren langsam, sie schlidderten auf der Fahrbahn. Carl war ein guter Fahrradfahrer, er würde aufpassen, vielleicht hatte er das Fahrrad auch an der Bibliothek stehen lassen. Die große Uhr am Kurfürstendamm zeigte auf zehn vor eins. Helene war unruhig, sie stellte sich unter die Markise vor die riesigen Schaufenster des Romanischen Cafés.
    Bestimmt wollte Carl ihr eine frohe Botschaft übermitteln. Vielleicht war ihm eine andere Stelle angeboten worden? Noch war er nicht entschieden, und er hätte sie gewiss gefragt, welche sie für die beste halte. Aber wenn er den Vormittag in der Bibliothek gewesen war, wie er es am Morgen angekündigt hatte, so konnte sich dort nichts Weltbewegendes ereignet haben. Helene lächelte nervös. Ihr fiel ein, wie Carl sie abends manchmal beim Lesen unterbrach, weil er ihr einen ungeheuerlichen Gedanken mitteilen wollte. Helene schaute an beiden Seiten der Gedächtniskirche vorbei, auf die andere Seite der Kreuzung. War dort nicht ein Mann auf dem Fahrrad mit einer Mütze, wie Carl sie trug? Aber es konnte sein, er war längst aus der Bibliothek zurückgewesen und hatte vom Viktoria-Luise-Platz aus angerufen. Weil er den Postboten getroffen hatte. Und der Postbote hatte ihm den Brief aus Hamburg gebracht. Hamburg sollte eine schöne Stadt sein. Manchmal träumte Helene davon, in einer Stadt mit Hafen zu leben. Sie liebte große Schiffe. Es erschien ihr als eine Benachteiligung ihrer Geburt, weder am Meer noch in den hohen Bergen geboren worden zu sein. Sie kannte die Berge nur aus der Ferne, und es waren kleine Berge, die Lausitzer Berge, eher Hügel. Das Meer stand ihr klar und deutlich vor Augen. Sie hatte es sich für Carl in den prächtigsten Farben ausgemalt. Aber gesehen hatte sie es noch nie.
    Helene trat unter der Markise hervor, sie wandte sich einige Schritte nach links zum Tauentzien, zur Fahrbahn hin, er mochte von dort kommen, prüfend sah sie sich um, mochte er bloß kommen, vier Himmelsrichtungen langten nicht an diesem Ort, sie wusste nicht, woher er kommen würde. Sie kannte die großen Schiffe von der Elbe bei Dresden. Die Uhr zeigte fünf nach eins. Plötzlich glaubte Helene zu wissen, warum er sie so eilig treffen musste. Erleichtert musste sie lachen. Er hatte die Ringe gekauft. Helene rückte ihren Hut zurecht. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Er wollte sie überraschen, kein Zweifel. Womöglich wollte er sie drinnen treffen, drinnen im Lokal, und sie hatte es bloß nicht verstanden? Zur Feier des Tages wollte er sie zum Essen einladen. Helene schaute sich um. Sie konnte schlecht reingehen, dann würde sie womöglich seine Ankunft verpassen. Ein Auto hupte. Konnte diese Frau mit ihren zwei Kindern nicht schneller gehen? Die Verkehrsverhältnisse wurden aber auch immer schlimmer, und wenn dann noch so ein Wetter hinzukam. Helene sah zur Uhr hinauf. Es war viertel nach eins. Vielleicht war er aufgehalten worden. Es war nicht Carls Art, zu spät zu kommen. Wenn sie verabredet waren, stand er meist schon am ausgemachten Ort und erwartete sie. Helene blickte wieder in jede Richtung, sie wandte sich einige Schritte nach rechts, auch aus der Budapester Straße konnte er kommen. Der Platz um die hohe Kirche, die Gehwege, die Fahrbahnen, alles war unübersichtlich, trotz Sonnenschein. Litfaß säulen, Menschen, die vor den Kiosken Schlange standen. Der Schneematsch ließ die Wagen und Passanten schliddern, ein Kutscher musste seine Peitsche immer wieder schwingen, damit sich sein Pferd bewegte. Helene trat von einem Fuß auf den anderen, ihre Füße waren nass und kalt. Ihr fiel das gestürzte Pferd ein, am ersten Tag, als sie gerade in Berlin angekommen waren. Ob das Pferd gestorben war? Infarkt des Herzens, des Hirns, der Lunge. Eine Embolie. Sie hatte sich vorgenommen, ihre Schuhe noch diese Woche zum Schuster zu bringen. Heute wäre ein guter Tag gewesen, heute hätte sie Zeit gehabt. Weil sie kein zweites Paar Stiefel besaß, würde sie beim Schuster warten müssen, bis er sie genäht und frisch besohlt hätte.
    Wenige Minuten vor halb zwei beschloss Helene, drinnen im Lokal zu schauen, wenn Carl bis um halb nicht da sein sollte.

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