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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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Schrittes, sie kannte ihren Wald und seine Lichtungen. Hunger verspürte sie, was nicht die beste Voraussetzung für das Finden war. Ihre Blicke streiften das Dickicht, das Unterholz, hier war es zu dunkel, zu trocken dort, sie mussten tiefer gelangen, dorthin, wo noch Bienen auf den Stämmen saßen und sich am Holz wärmten, langsam in ihren Bewegungen, die anbrechende Kälte lähmte sie.
    Mutter warte, du gehst so schnell. Peter war bestimmt schon zwanzig, dreißig Schritte hinter ihr. Helene drehte sich zu ihm um, er war jung, er hatte flinke Beine, nicht träumen sollte er. Helene setzte ihren Weg fort, sie stieg über abgefallene Äste, die Zweige unter ihren Füßen brachen, Baumschwämme mochte sie nicht, sollten sie nur an ihren morschen Stümpfen wuchern, sie ging weiter, sie wollte Steinpilze finden, Steinpilze und Maronen. Das Licht brach durch die Bäume, weiter vorn sah sie Grün, das zarte, dürre Grün einer kleinen Lichtung, dort mochte es sein, dort musste es sein, sie würde einen finden, zwei, einen ganzen Kreis wollte sie plündern. Helene lief und hörte Peter kaum noch, der weit hinter ihr herstolperte und rief. Da war einer. Er hatte einen dicken alten Hut, braun, alles andere als das, was an so einem Morgen zu erwarten war. Hatte es nicht geregnet in der vergangenen Nacht und war nicht Vollmond gewesen? Der späte Tau hing noch an manchen Gräsern. Nur eins war möglich, dass jemand bereits vor ihnen hier gewesen war und gewildert hatte in ihrem Wald, an ihrem Saum, auf ihrer Lichtung. Helene blieb stehen, atemlos blickte sie sich um. Der Ast dort hinten, war der frisch gebrochen?
    Warte, rief Peter, der die Lichtung noch nicht erreicht hatte, als sie sich umdrehen und ihren Weg ins Dickicht fortsetzen wollte. Sie wartete nicht, sie ging nur langsamer. Sie hörte das Bellen eines Hundes, es klang aus der Ferne, dann eine Trillerpfeife, eine zweite. Es würde doch kein Förster am Sonntag jagen? Kaninchen mit Pfifferlingen, Helene musste an das zarte Kaninchen denken, das sie einmal vor langer Zeit für Wilhelm geschmort hatte. Eine Flinte müsste man haben. Pfifferlinge, noch lieber Butterpilze, Steinpilze. Helenes Augen wanderten über den Boden, sie quollen über, ihre Augen wollten aus den Höhlen springen. Ein Fliegenpilz mit kräftigem Hut, jung und geschwollen wie für ein Bilderbuch. Helene lief weiter, Peter immer hinter ihr her. Sie kreuzten die Bahnlinie. Ein sinnesbetäubender Gestank wehte ihnen entgegen. Nach Aas stank es, nach Urin und Exkrementen. Auf der Strecke stand in einiger Entfernung ein Viehtransport. Die rostigen Waggons waren bis oben geschlossen. Helene ging an den Gleisen entlang, Peter folgte ihr, aus der Ferne erkannte sie einen Polizisten. Womöglich war die Lok ausgefallen, das Vieh darbte bei langdauernden Transporten. Ein Hund bellte und Helene sagte nur: Komm.
    Sie schlug den Weg in den Wald zurück ein. Sie mussten den Zug umgehen, in großem Bogen umrunden, um seinem Gestank zu entrinnen und den Hunden nicht über den Weg zu laufen.
    Warum rennst du, Mutter?
    Roch Peter nicht den Gestank? Sie musste würgen, durch den Mund atmen, am besten gar nicht atmen, Helene lief, die Zweige brachen, schlugen ihr ins Gesicht, sie hielt sich schützend die Arme vor die Augen, unter ihren Füßen brach morsches Holz, es glitschte unter ihren Füßen, sie rutschte, da stand ein Pilz, womöglich nur ein Bitterling, sie wollte nicht stehenbleiben, sich nicht bücken, keinesfalls verweilen, nur weiter, dem Gestank entgegen. Wenn sie den Zug erst in nordwestlicher Richtung umrundet hätten, würde es besser werden, der Gestank trieb nach Südosten, mit dem Wind, der von der See kam. Wieder drang die Trillerpfeife an Helenes Ohr. Vielleicht war ihnen Vieh abhanden gekommen? Vielleicht jagten sie Kühe sonntags im Wald, kleine Ferkel. Helene verspürte Hunger, sie musste an Grüne Klöße mit Steinpilzen denken. Die Bucheckern sprangen unter ihren Sohlen davon. Nur nicht bücken, so hübsch sie auch waren, die borstigen Hütchen, die glatten dreifaltigen Kerne, Eckern, sie schmeckten nussig, wenn man sie röstete, sie wollte sie Peter zeigen, nur nicht jetzt.
    Sie hatten es geschafft, offenbar hatten sie den Zug eingeholt, in großem Bogen umrundet, der Gestank war fort. Waldesstille, das Surren von Insekten. Ein Specht.
    Mutter, ich seh ein Eichhörnchen.
    Helene wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
    In ihrem Weg lag der dicke und lange Stamm einer

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