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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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wollte erkennen, aus welcher Richtung die Schüsse kamen. Aber Helene wartete nicht, seine Hand rutschte aus ihrer, sie hastete weiter, stolperte, fiel und stützte sich auf umgefallene Stämme, hielt sich an Ästen und Zweigen und hörte nicht auf, einen Schritt vor den anderen zu setzen, einen Schritt vor den anderen, sie konnte laufen. Kaninchen mit Pfifferlingen, etwas ganz Einfaches, Häschen in der Grube, zwischen Berg und tiefem, tiefem Tal. Vor allem, im Tal. Vieh. Wie konnte sie nur einmal Kaninchen gegessen haben?
    Sie liefen eine unbestimmte Zeit durch den Wald, bis Peter hinter ihr rief, er könne nicht mehr, und einfach stehen blieb. Helene ließ sich nicht aufhalten, sie setzte ihren Weg fort, rastlos.
    Weißt du, wo wir sind? Peter rief hinter ihr.
    Helene wusste es nicht, sie konnte ihm nicht antworten, sie hatte die ganze Zeit über darauf geachtet, dass die Sonne, sobald sie durch das Blätterdach fiel, ihre Schatten nach rechts warf. Warf die Sonne Schatten oder die Bäume? Helene fand keine Gewissheit. Eine einfache Frage, doch unlösbar. Womöglich war es der Hunger, der sie trieb, der ihr Herz jagen ließ, sie schwitzen machte. Ja, sie hatte Hunger. In ihrem Korb befand sich noch kein einziger Pilz, nur gerannt war sie und wusste nicht einmal, wohin. Sie hatte darauf achten wollen, dass sie nach Westen liefen und der Zug hinter ihnen blieb. Vielleicht war das gelungen. Sie mussten weiter, Helene sah, dass es dort hinten aufhellte, eine Lichtung, eine Rodung, eine Straße, was auch immer.
    Eine Hand griff nach ihrer, Peter hatte sie eingeholt, seine Hand war fest und klein und dürr. Wie konnte ein kleiner Junge bloß so viel Kraft in seiner Hand haben? Helene wollte sich losmachen, aber Peter hielt sie fest, fest an der Hand.
    Voran, ein Bein und zwei und drei, Helene ertappte sich dabei, wie sie ihre Schritte zählte, sie wollte entkommen, wegkommen, nur weg. Peter klammerte sich an sie, griff nach ihrem Mantel, sie schüttelte ihren Arm, sie schüttelte heftig, bis er loslassen musste. Sie ging voran, er hinterher. Sie lief schneller als er. Der sich lichtende Wald entpuppte sich als Fata Morgana, nichts lichtete sich, immer dichter wurde der Wald, das Unterholz, über den Kronen hatten sich Wolken gebildet. Die Wolken da oben trieben, sie jagten landeinwärts. Wie spät mochte es sein? Später Vormittag, Mittag, Mittag vorbei? Ihrem Hunger nach musste es spät sein, zwei, vielleicht schon drei, dem Stand der Sonne nach. Mutter! Pilze gebraten mit Thymian, einfach in Butter geschwenkt, mit Salz, mit Pfeffer, mit frischer Petersilie, ein paar Tropfen Zitrone, Pilze gedünstet, gebacken, gekocht. Roh, den ersten wollte sie roh verspeisen, gleich hier und jetzt. Helene lief das Wasser im Mund zusammen, sie stolperte voran, besinnungslos. Blätter und Zweige, Dornen von Beeren, Brombeeren vielleicht, und wo waren sie eigentlich, die Pilze? Mutter! Die Buchen blieben zurück, eine alte Schonung, nur Fichten noch und niedrige, immer niedrigere Fichten, die Äste hingen tief, die Nadeln knisterten, der Waldboden sank. Eine kleine Lichtung, weiche Mooshügel ragten aus den Nadeln. Ein Fliegenpilz und noch einer, die giftigen Wächter. Und da stand er vor ihr, den Schirm gebogen, dunkel und glänzend. Schon mussten sich Schnecken gelabt haben, ein, zwei kleine Mulden kündeten von früheren Fressern. Helene kniete, ihre Knie drückten sich in das Moos, sie neigte sich über den Schirm und roch. Das Laub, der Pilz, es roch nach Wald, nach Essen im Herbst. Helene legte ihren Kopf in das Moos, sie besah ihn von unten, die Röhren waren noch weiß und fest, ein prächtiger Pilz. Mutter! Es klang wie aus weiter Ferne. Helene drehte sich um. Da standen sie Spalier in der Senke, ein Pilz am anderen, Jünglinge der letzten Nacht, Helene kroch auf allen vieren unter die Äste, bahnte sich mit den Händen den Weg, hielt Zweige zur Seite und robbte und legte sich auf den Waldboden. Wie es duftete. Mutter! Helene griff nach einem Pilz, brach ihn und steckte ihn ganz in den Mund, das mürbe, feste Fleisch zerfiel fast auf der Zunge, was für ein Genuss. Wo bist du? Peters Stimme knickte, er fürchtete sich, er konnte sie nicht sehen und glaubte sich allein. Wo bist du! Seine Stimme überschlug sich. Helene hatte ihren Korb auf der Lichtung stehen lassen. Der zweite Pilz war noch kleiner, fester, frischer, sein heller Stamm war bald dicker als der braune Hut. Mutter! Peter kämpfte mit den Tränen, sie sah seine

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