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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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der Angriffe war ihm etwas zugestoßen. Einmal im Winter hatte er eine Hand mitgebracht und nichts über die Hand sagen wollen. Womöglich hatte er sie auf der Straße gefunden, die Hand, eine Kinderhand. Helene hatte ihre Mühe gehabt, ihm die Hand abzunehmen. Er wollte sie nicht loslassen. Der Junge musste fort, keine Frage, sie konnte ihn nicht gebrauchen, er sollte seine Hausaufgaben machen, den Ofen heizen, er sollte selbst schauen, wo er Kohlen oder Holz fand, es lag doch überall herum, sie musste ihn allein lassen, seit Wochen, seit Monaten. Wenn sie nach Hause kam, sah er sie aus großen Augen an, immerzu wollte er etwas wissen, er fragte, er wollte wissen, wo sie gewesen sei, und er wollte, dass sie bei ihm blieb. Mit seinen Händen griff er nach ihr, legte sie sich zu ihm ins gemeinsame Bett, umschlangen sie seine Arme wie ein Krake. Tentakeln, er saugte sich fest. Seine Arme nahmen ihr die letzte Luft. Aber sie konnte nicht bleiben, sie hatte zu tun. Mit niemandem sprach sie mehr. Mutti! Eine alte Sterbende rief von ihrem Lager her. Das war Helene nicht, Helene war niemandes Mutti, sie musste sich nicht umdrehen, sie konnte schweigen und tupfen, nähen und verbinden. Sobald es Wasser gab, wusch sie die Verletzten, notdürftig, die Kranken, kaum hielt sie noch Hände von Sterbenden, es starben zu viele, zu viele Hände, zu viele Stimmen, das Ächzen und Stöhnen, schließlich das Verstummen, die Laken mussten geschlossen, die Leichen auf die Wagen geschleppt werden. Zurück zur Operation, ein Mann musste zum vierten Mal operiert werden, am Schädel, der Arzt wollte, dass Helene ihm zur Seite stand, ob da noch etwas zu retten war, das wusste niemand, aber es wurde operiert. Der Brückenkopf war gesprengt, vor der Stadt lauerte die Rote Armee, die Wut der Ausgehungerten, als erstes drangen die Geschichten ein, wie sie Blut geleckt hatten, wie sie sich vorwärtsschlugen, dass man sich fürchten sollte, schon drang sie ein, die Rote Armee, eine Mullbinde fehlte, eine Kompresse, irgendein Wundverband. Wie lang war es her, dass sie zu Hause gewesen war, ein Tag oder zwei? Sie konnte es nicht mehr sagen. Zuletzt hatte sie in der vorigen Nacht wenige Stunden auf der Liege im Schuppen geschlafen, im Wechsel mit anderen Schwestern, nur einmal hatte sie in diesen Monaten etwas geträumt, sie hatte Menschen aneinandergenäht, einen Menschen an den anderen, ein großes Menschengeflecht entstand da, und sie wusste nicht, welcher Teil davon lebendig und welcher schon tot war, nur genäht hatte sie, einen an den anderen, alle sonstigen Nächte und Stunden des Schlafs blieben traumlos, angenehm schwarz, Helene eilte nach Hause, es war schon dunkel, sie schaute nicht auf, betrachtete keinen Schaden, keinen sachlichen, was war diesem Haus geschehen, was jenem, sie eilte voran, sie musste Peter sagen, dass er ein neues Schloss besorgen sollte. Helene hastete, schneller sollten die Füße sie tragen, sie kam nicht vorwärts, der Boden unter ihren Füßen gab nach, sie rutschte, Steine, Geröll, Sand, sie trat, trat die Erde, rutschte tiefer, langsam immer tiefer, ihre Füße bohrten sich mit dem Sand in den Boden, sie nahm die Hände zu Hilfe, auf allen vieren musste sie hinaufkommen und rutschte doch wieder zurück. Ein Bombentrichter konnte zur Falle werden, zur Zeitfalle, zur Nachtfalle. Ein Schritt hinein und keine tausend führten hinaus, man konnte sich anstrengen, so sehr man wollte. Helene rief nicht, es waren zwar noch einige Menschen unterwegs, aber jeder auf seinem Weg, keiner auf ihrem. Ihre Hände tasteten, sie nahm neuen Anlauf, sie tastete oben und tastete unten, bis sie etwas Festes spürte und etwas greifen konnte. Es war so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, was es war. Sie hangelte sich an dem Festen entlang, einem Kabel vielleicht, ein festes Kabel, ein Wasserrohr, gebogen, dann etwas Weiches, das Weiche ließ sie los, es konnte ein Mensch sein, ein Leichenteil, an dem Festen hangelte sie sich, an ihm zog sie sich und kletterte hinauf. Die Straße war schwarz, dunkel der Himmel, in keinem der Häuser brannte Licht, Stromausfall vielleicht. Das Pflaster war vom Nieselregen glatt. Diebe! Aus der Ferne drang die Stimme einer aufgebrachten Frau, die sich über Plünderungen beschwerte. Wer wollte sich in dieser Nacht mit ihr ereifern, in der nächsten, in der übernächsten? Aus einem der schwarzen Fenster lehnte ein junger Mann. Mit ausgebreiteten Armen rief er in die Nacht: Der Erlöser, der Erlöser!

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