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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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dünnen Jungenbeine durch die Zweige, wie er über die Lichtung stapfte und an ihrem Korb stehen blieb, sich bückte und wieder aufrichtete. Beide Hände formte er vor dem Mund zum Trichter: Mutter!
    Es gab kein Echo, oben in den Wipfeln rauschte der Wind, er peitschte die obersten Äste, er wollte die Erde erreichen. Der Junge schrie es in jede Richtung. Mutter!
    War es nicht einfach, stillzuhalten? Die einfachste Übung schlechthin, kein Zittern, kein Knacken, nur Stille.
    Der Junge setzte sich auf den Hosenboden und weinte. Es war kein Spaß. Wenn sie jetzt wenige Meter neben ihm aus dem Gebüsch käme, würde er wissen, dass sie ihn beobachtet und sich absichtsvoll versteckt hatte. Mit welcher Absicht, warum? Helene schämte sich und hielt still, und der Junge weinte. Sie atmete flach, nichts einfacher als das. Kein Niesen, kein Verrat. Die Ameisen kitzelten sie, an der Hüfte brannte es schon, die winzigen Biester gelangten in ihre Kleider und bissen. Eine feingliedrige rote Spinne, nicht größer als ein Stecknadelkopf, krabbelte auf ihrer Hand. Der Junge stand auf, er blickte in jede Richtung, nahm ihren Korb und machte sich auf den Weg in südöstliche Richtung. Dumm war er nicht, es war die Richtung zurück zum Dorf und zur Stadt. Helene stopfte sich einen Pilz nach dem anderen in den Mund, wie süß war das Alleinsein, das Kauen, die Ruhe.
    Als sie seine Schritte im Unterholz nicht mehr hörte, kroch sie aus ihrem Versteck. Nadeln und Borke klebten an ihrem kurzen Mantel. Sie klopfte sich den Rock ab. Es raschelte, ein Vogel flog auf. Helene lief zwischen den Fichten und den jungen Eichen in den Wald, in die Richtung, in der er verschwunden war. Sie rief, Peter, und er antwortete schon auf der zweiten Silbe seines Namens, mit hoher Stimme, erleichtert, glücklich, das Lachen voll Ungeduld, schrie er: Hier bin ich, Mutter, hier.

Eine feine Naht, die Haut über dem Auge so zart, das Auge des Verletzten, eines Vaters, des Krieges. Der Augapfel war unter dem geschwollenen Fleisch kaum erkennbar. Helene zupfte mit der Pinzette die Glassplitter aus dem Gesicht, aus der Stirn, aus der Schläfe, feinste Glassplitter aus der einen Wange, die noch erkennbar war, aus der anderen, die nur Fleisch und roh und blutig war. Der Verletzte rührte sich nicht, nach mehreren Anläufen war es dem Arzt trotz geringer Dosis gelungen, den Mann zu betäuben. Die Medikamente waren knapp, die meisten Menschen mussten ohne Narkosen behandelt werden. Sie lagen auf Pritschen, auf Bettgestellen, die andere aus den Häusern geschleppt hatten, manche kauerten auf dem Boden, weil es nicht gelang, genügend Liegestätten zu beschaffen, unter Zeltplanen und in den Remisen des Krankenhauses, das weitgehend zerstört war. Helene tupfte die rostrote Tinktur auf die Wunden, sie verlangte nach Gaze, aber keine der Schwestern hatte mehr welche. Das kleine Mädchen starrte sie stumm an, seit Tagen, sie hatte das Haar vorn etwas versengt, eine Beule, sonst nichts, und ihre Mutter verloren. Sie sprach kein Wort mehr. Man musste sie fortschaffen aus dem Krankenhaus, irgendwohin, aber wer fand schon Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. Hier bekam sie Suppe, sobald es jemand schaffte, eine zu kochen, sobald das Gas wieder da war und wenn wieder Wasser aus dem Hahn kam.
    Bald nach den letzten Angriffen war im März die Frauen klinik ins Seebad Lubmin bei Greifswald evakuiert worden. Helene hatte versprochen, dass sie nachkommen werde, sobald sie die Not der Verletzten in der Stadt gemildert hätten; von ihrem Jungen sprach sie nicht mehr.
    Die Zange, Schwester Alice, die Pinzette. Helene lief, sie reichte die Instrumente, sie öffnete das Bauchfell, sie schnitt, weil es schnell gehen musste und der Arzt jetzt im anderen Zelt eine junge schwangere Frau versorgte, die bloß ihren Fuß verletzt, vielleicht verloren hatte. Helene schnitt und sie nähte, sie stillte mit Tamponaden, ein Mädchen hielt ihr die Instrumente, das Skalpell und die Schere, die Zange und Nadeln. Helene arbeitete Tag und Nacht, manchmal schlief sie ein, zwei Stunden in dem Schuppen, den sich die Schwestern als Küche hergerichtet hatten. Nur selten dachte Helene daran, dass sie einmal zu Hause nach dem Rechten schauen musste. Peter sollte zur Schule gehen. Er widersprach, die Schule gebe es nicht mehr, dann eben zum Unterricht, mein Gott, er sollte sich etwas zum Essen besorgen, er hatte zwei Beine, oder nicht, er musste schauen, wo er blieb. Hatte er nicht Glück gehabt? Bei keinem

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