Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Buche, die Rinde schimmerte noch silbergrau. Zwischen den Astnarben tummelten sich die flachen, schwarzrotgefleckten Käfer, die sich paarweise verhakelt hatten; kleine Stoßmich-Ziehdichs. We nigstens das hätte sie ihrem Peter vorlesen können, wenn schon nicht das Kalte Herz, das gruselte ihn zu sehr, so die Geschichte von Doctor Doolittle, käme sie noch zum Lesen, er würde seine Freude haben, aber es war ja noch Zeit, gewiss, sie hatten noch Zeit, eines Tages, bloß musste sie einmal früher aus dem Krankenhaus kommen und es in die Bücherei schaffen und das Buch vorhanden sein und sie es ausleihen. So ein Stamm, der wollte überwunden werden. Helene stellte ihren Korb ab und stützte ihre Hände auf, bloß keinen der Käfer zerdrücken, der Stamm federte nicht ein bisschen.
Mutter, warte!
Helene tastete nach einer geeigneten glatten Fläche, stützte sich mit beiden Händen auf den Stamm und schwang ein Bein hinüber. Der Stamm war so breit und stand aufgrund seiner Krümmung so hoch, dass sie auf ihm sitzen musste. Nur wie jetzt hinunter? Es knackte. Der Stamm konnte nicht brechen. Es knackte ganz nah. Der Gestank, da war er wieder, Helenes Hals wurde eng, sie musste würgen, sie schluckte und wollte nicht mehr atmen, keinen einzigen Zug mehr. Ein Übel, der Geruch, nicht Aas, nur Jauche, elende Jauche. Wie konnte das sein, sie waren ihm schon entronnen, dem Viehtransport, er lag hinter ihnen, ganz sicher. Ein Niesen. Helene drehte sich um. Unterhalb des Stammes, in der Grube, die das in den Himmel ragende Wurzelwerk hinterlassen hatte, kauerte ein Mensch. Helene öffnete den Mund, sie konnte nicht schreien. Ihr Schreck saß so tief, dass kein Laut aus ihrer Kehle kam. Der Mensch hatte sich geduckt, Zweige lagen über dem Buckel, den er machte, sein Kopf war nicht zu sehen, er bohrte ihn in die Erde, wohl, weil er hoffte, zu verschwinden und hoffte, man sähe ihn nicht. Er zitterte so stark, dass die welken Blätter an den Ästen, die er über sich gehäuft hatte, wackelten. Wieder knackte es. Offenbar fiel es dem Menschen schwer, stillzuhalten, dass nichts ihn rührte und er nichts rührte.
Mutter? Peter war keine zehn Meter mehr entfernt. Sein verschmitztes Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. Wolltest du dich verstecken? Er fragte es, er musste nicht mehr rufen, so nah war er. Helene ließ sich vom Stamm gleiten, sie rutschte und lief ihm entgegen, sie griff seine Hand und zog ihn fort.
Ich kann dir helfen, Mutter, wenn du nicht über den Baum kommst, ich helfe dir, ich kann das, du wirst sehen. Peter wollte zurück zum Baumstamm, er wollte keine andere Richtung einschlagen, er wollte balancieren und seiner Mutter zeigen, wie man über so einen Stamm kletterte. Aber seine Mutter setzte unbeirrbar einen Schritt vor den anderen und zog Peter hinter sich her.
Lass mich los, Mutter, du tust mir ja weh.
Helene ließ nicht los, sie rannte, sie stolperte, Spinnweben klebten ihr im Gesicht, sie lief und hielt dabei den Korb vor sich, als könne er die Spinnweben beseitigen, der Wald lichtete sich etwas, Farne und Gräser standen hoch, hier war es fast windstill, sie durften nicht rasten, sie mussten fort. Das Vieh war ein Mensch, womöglich waren es Menschen, die dort auf den Gleisen standen und faulten und stanken. Gefangene, wer sonst krümmte sich in so leichter Kleidung zitternd unter Ästen? Ein Entflohener. Womöglich war es einer der Transporte, die nach Pölitz gingen, dort für Nachschub sorgen sollten. Seit Kriegsbeginn konnte nicht genügend Treibstoff hergestellt werden, nicht genügend Arbeiter verpflichtet, Gefangene geknechtet, hin gekarrt werden. Selbst Frauen, so hieß es in Gerüchten, die Schwestern sich hinter vorgehaltener Hand erzählten, arbeiteten in den Fabriken, schufteten, bis sie nicht mehr arbeiten noch essen und trinken konnten und eines Tages nicht mehr atmen mussten. Hatte sie das Gesicht des Geflohenen gesehen, hatte er den Kopf gehoben und sie in seine Augen geblickt, ängstliche Augen, schwarze Augen? Es waren Marthas Augen, die Helene jetzt sah. Marthas ängstliche Augen. Helene sah Martha in dem Viehwaggon, sie sah, wie Marthas nackte Füße auf den Exkrementen ausrutschten, wie sie Halt suchte, das Stöhnen der Gepferchten, das Ächzen des Menschen, sein Zittern, sein Eichenlaub und das Niesen. Ein Schuss fiel.
Ein Jäger, rief Peter, er juchzte.
Hunde bellten in der Ferne, ein zweiter Schuss.
Warte, Mutter. Peter wollte stehen bleiben, sich umsehen, er
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