Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
Mittagszeit, Peter hatte Hunger. Essen, rief diesmal die Tante unter dem schmalen Dach hervor, Peter, essen kommen!
Es war ihm eine Lust, dem Hunger und dem Angesicht der Mutter zu widerstehen, eine unbändige, eine zwingende, eine süß schmerzhafte Lust. Peter stellte sich vor, wie sie beim Essen saßen, der Onkel schimpfend, die Tante verlegen und nur leise fluchend, die Mutter schweigend. Ob die Mutter auf der Kü chenbank saß, die ihm nachts als Bett diente? Gewiss würde sie nicht fragen: Wo schläft er denn? So etwas fragte sie nicht, sie musste dankbar sein, dass er die letzten Jahre hier hatte wohnen dürfen. Einmal hatte Peter gehört, wie Onkel und Tante nachts um Geld gestritten hatten, es hatte geklungen, als schicke sein Vater hin und wieder Geld für ihn. Aber Peter wusste davon nichts; was er wusste, war, dass er sich sein Bleiben verdienen sollte, und er verdiente es sich, sein Bleiben und die Zeit, die er auf dem Hof fehlte, wenn er zur Schule ging. Wie sie wohl von ihm sprach? Sagte sie mein Peter, sagte sie einfach nur Peter, oder gar der Junge? Vielleicht sprach sie gar nicht von ihm. Vielleicht schwieg sie. Sie mochte nicht verstehen, warum er nicht auftauchte. Es konnte ihr peinlich sein, dass ihr Sohn so ungezogen war und sie nicht sehen wollte. Sollte es sie peinigen. Peter stemmte die Faust auf die Beule in seiner Hose, er drückte sich, er boxte sich zärtlich. Sie sollte abhauen, die Mutter da unten, sie sollte endlich gehen. Begriff sie nicht, dass sie umsonst wartete? Sie würde ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen, jetzt nicht, heute nicht, und nie mehr. Sollte sie ihre blonden Locken aus der Stirn streichen, ihre weißen Schürzen waschen und zu irgendeiner Schwester in die Nähe von Berlin zurückfahren. Weg mit ihr, nur weg!
Peter starrte durch die Ritze in der Fensterluke. Große und weich wirkende Flocken taumelten in der Luft. Man konnte nicht sagen, dass sie fielen, sie schwebten, sie tanzten aufwärts und östlich und blieben auf den buckligen Steinen unten im Hof liegen. Wie oft hatte er sich als Kind vorgestellt, dass er von Onkel und Tante weglaufe, hinaus auf den Acker, in den Schnee. Dass er sich dort in den Schnee legen und einfach warten würde, bis das Atmen aufhörte. Aber damit war es jetzt vorbei, den Gefallen würde er ihnen nicht tun, er wollte sie warten und zappeln lassen und einfach allein seiner Wege gehen. Er brauchte niemanden.
Hasso bellte und lief zum Tor, er wedelte mit dem Schwanz. Jemand mit einem Fahrrad und einem Milchkübel am Lenker öffnete das Tor und wischte sich die Schneeflocken aus dem Gesicht. Sie trug ihren roten Anorak, Bärbel. Bärbel war etwas Besseres, etwas viel Besseres. Zumindest glaubte sie das. Ihre Eltern schickten sie am Wochenende herüber, damit sie Milch holen kam. Bärbel war so alt wie Peter, sie lernte schon Verkäuferin in Willershagen. Im Sommer sah er sie manchmal in Graal-Müritz am Strand. Peter wurde es nur selten gestattet, mit dem Fahrrad durch die Rostocker Heide an die Küste zu fahren. Dabei ging das schnell. Manchmal fuhr er, ohne um Erlaubnis zu bitten. Am Strand konnte man die Mädchen und Jungen sehen, sie waren fast nackt. Auch Bärbel. Bärbel glaubte, dass ihr die Welt gehörte, weil der Strand und die Sommergäste ihr zu Füßen lagen. Niemand sah, wie sie jetzt im Winter mit ihrem Milchkübel über den Lenker auf den Hof kam und ausrutschte. Sie rutschte wirklich aus, sie fiel der Länge nach hin, das Fahrrad mit ihr, und Hasso bellte und wedelte mit dem Schwanz. Der Onkel erschien unter dem Vordach. Er konnte nicht wissen, wie Bärbel im Sommer am Strand aussah, weil er nie zum Strand fuhr. Trotzdem mochte er Bärbel und wollte nicht, dass Peter oder die Tante Bärbel die Milch abfüllten. Das wollte der Onkel lieber allein machen. Bärbel war eine blöde Pute. Sie hatte zu Peter gesagt, er sei ein Spätentwickler. Sie hatte recht, mit allem, was sie sagte, hatte sie recht.
Peter hörte, wie die Stalltür unter ihm geöffnet wurde. Abgehauen, hörte er den Onkel zu Bärbel sagen. Ausgerechnet heute. Ist das zu fassen. Bärbel kicherte. Bärbel kicherte meistens, wenn sie mit dem Onkel in den Stall ging. Sie kicherte auch auf dem Fahrrad und im Geschäft, wo sie als Lehrling schon an der Kasse stehen durfte, dort kicherte sie auch und stöhnte, wenn Peter fragte, wann es wieder echten Bienenhonig gebe.
Peter lauschte unter sich. Der Onkel und Bärbel sprachen jetzt leise. Sie wisperten. Vielleicht
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