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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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süßer Duft irgendwelcher Blüten mischte sich darunter. Martha entdeckte einen Husaren, dessen Pferd bloß Vorderbeine hatte, und selbst die verschwanden bei längerem Hinsehen. Während es hier unten nahezu windstill schien, zogen die Wolken oben immer schneller gen Osten. Helene wollte einen Drachen erkennen, aber Martha sagte, ein Drache habe Flügel.
    Kein Wunder, dass alle Welt von Mobilisierung spricht, rief Arthur herab. Wenn man euch da so liegen sieht, fällt das Beerensammeln gar nicht schwer!
    Die Schwestern tauschten einen vielsagenden Blick. Arthur ging es um ihre Nähe und um keine Mobilisierung, da waren sie sicher. Keine von beiden hatte eine Vorstellung, was Arthur mit Mobilisierung meinte. Sie vermuteten, dass er über diesen Begriff ähnliche Rätsel anstellte wie sie selbst. In Fetzen trug der Wind sein Pfeifen zu ihnen, er pfiff einen fröhlichen Marsch. Wer sollte schon wofür in einen Krieg ziehen? Gab es einen herrlicheren Ort als das Spreeufer und eine größere Zuversicht, als die Sonne sie mit ihrer Wärme seit Monaten ausstrahlte? Die Ferien würden kein Ende nehmen, niemand würde dem Aufruf zur Mobilisierung folgen.
    Mehr gibt es nicht, sagte Arthur, als er nach längerer Zeit mit zwei vollen Händen Walderdbeeren kam und sich vor die Schwestern setzte. Nimmst du sie? Er streckte seine Hände Martha entgegen, die Beeren kullerten und drohten ins Gras zu fallen.
    Nein, ich möchte nicht mehr.
    Vielleicht du.
    Helene schüttelte den Kopf. Einen Augenblick schaute Arthur unschlüssig auf seine Hände.
    Teuerste. Er flehte Martha lachend an. Sie sind für dich.
    Von wegen, wir füttern das Engelchen.
    Martha hielt ihre Hände auf und übernahm die Erdbeeren von Arthur, einige fielen auf die Wiese.
    Pack sie. Martha deutete mit dem Kopf zu Helene. Arthur folgte ihrem Befehl, er warf sich auf Helene, zwang sie unter sich und kniete fest auf ihrem kleinen Körper, mit seinen starken Händen drückte er ihre Arme zu Boden. Während Arthur und Martha lachten, kämpfte Helene, sie ballte ihre Fäuste, sie rief, dass man sie loslassen solle. Helene wollte ihr Rückgrat durchbiegen, um Arthur von sich zu schütteln, aber er war schwer, er lachte und war so schwer, dass ihr Rücken unter der Spannung nachgab. Martha drückte nun eine Beere nach der anderen zwischen Helenes Lippen. Helene presste ihre Lippen aufeinander, so fest es ging. Der Saft rann aus ihren Mundwinkeln das Kinn und den Hals entlang. Helene versuchte mit geschlossenem Kiefer zu betteln, man sollte sie in Ruhe lassen. Martha stopfte jetzt die kleinen Beeren in Helenes Nase, dass sie kaum noch Luft bekam und der Saft im Innern der Nase brannte. Martha zerquetschte die Beeren auf Helenes Mund, auf ihren Zähnen, quetschte sie, dass die Haut rund um Helenes Mund vom süßen Saft der Beeren juckte, bis Helene den Mund öffnete und mit ihrer Zunge nicht nur die Erdbeeren von den Zähnen, sondern auch Marthas Finger ableckte, die ihr in den Mund geschoben wurden.
    Das kitzelt, Martha lachte, das fühlt sich an, wie, wie, fühl mal.
    Schon spürte Helene Arthurs Finger in ihrem Mund. Sie dachte nicht nach, sie biss einfach zu. Arthur schrie und sprang auf.
    Er war einige Meter davongerannt.
    Bist du verrückt? Voller Entsetzen hatte Martha Helene angesehen, das war doch Spaß.
    Jetzt, da Helene Marthas Zunge in ihrem Mund fühlte, überlegte sie, ob sie zubeißen sollte. Aber sie konnte nicht, etwas gefiel ihr an Marthas Zunge, und zugleich schämte sich Helene.
    Martha rüttelte sie wach. Es war noch dunkel, Martha hielt eine Kerze. Die Mädchen sollten dem Vater ins Nebenzimmer folgen. Dort lag die Mutter steif auf dem Bett. Ihre Augen waren stumpf, kein Blick schien ihnen mehr zu entkommen. Helene wollte ein Blinzeln erkennen, sie stützte sich mit den Fäusten auf das Bett und beugte sich über die Mutter, aber die Augen der Mutter blieben reglos.
    Ich sterbe, sagte die Mutter mit leiser Stimme.
    Der Vater schwieg, er sah ernst aus. Unruhig fingerte er am Knauf seines Krummsäbels. Keinen Tag länger wollte er über den Sinn des Krieges und seine Aufgabe darin sprechen. In der Kaserne am Stadtrand wurde er seit letzter Woche erwartet, das Regiment duldete keine Verspätung. Es gab weder Aufschub noch Entrinnen. Dass seine Frau angesichts des Abschiedes das Sterben vorzog, überraschte Ernst Ludwig Würsich nicht. Schon häufig hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihn laut und leise für sich und andere ausgesprochen. Jedes Kind, das

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