Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
den anderen Mädchen der Stadt bekannt und beneidet. Äußerte eine Freundin von Martha den Wunsch, Kindergärtnerin zu werden, so wurde sie von ihren Eltern abschätzig gefragt, ob das denn nötig sei. Die Familie habe genügend Geld, das Mädchen sei hinreichend gebildet und könne schon jetzt unter zwei Bewerbern einen tüchtigen und wohlhabenden Mann wählen. Wenn Martha Helene von ihren Freundinnen erzählte, klang es wie eine Gruselgeschichte. Sie setzte eine bedeutungsvolle Pause, diese Freundin wolle aber einen, den sie liebe, das habe sie den Eltern geantwortet. Darauf lächelten die Eltern. Im Ton der Weisheit gab der Vater zu bedenken, dass ja wohl erst einmal der passende Mann da sein müsse, dann könne sich die Liebe zeigen. Der Richter Fiebinger, dessen Söhne erst nach einer gewissen Dienstzeit im hiesigen Regiment das Studium aufnehmen sollten, schickte seine Töchter gleich nach Dresden, die eine ans Konservatorium, die andere zum Seminar für Lehrerinnen. Martha erzählte Helene häufig von den Töchtern des Richters. Lehrerin müsste man werden. Martha hatte noch vor wenigen Jahren in der Schule neben der angehenden Lehrerin gesessen und ihr beim Rechnen geholfen. Womöglich hätte es das Mädchen ohne ihre Hilfe nicht auf die Höhere Schule geschafft? Martha flüsterte Helene ins Ohr, dass der Vater Helene zum Studieren schicken werde, wenn sie so weiter mache, bis nach Dresden und Heidelberg, ganz sicher. Ihre Lippen berührten beim Flüstern Helenes Ohr, es kitzelte angenehm, und Helene konnte nicht genug davon kriegen. Nachdem der Vater Martha schon die Krankenpflegeschule erlaubt habe, werde er in Anbetracht von Helenes Klugheit nicht davor zurückschrecken, seinen ganzen Stolz auf die Jüngere zu richten und sie nach Heidelberg bringen, damit sie dort als eine der wenigen Frauen Medizin studiere. Wenn Martha ihr so eine Zukunft ausmalte, hielt Helene den Atem an, sie hoffte, dass Martha nicht aufhören würde, diese Geschichte zu erzählen, sie sollte weitersprechen und davon erzählen, wie Helene eines Tages in einem großen Lehrsaal an der Dresdner Universität die Anatomie des Menschen studieren würde und welche lustigen Namen der Körper in sich trug, das Rückenmark und den Wirbelkanal. Helene konnte sich nicht satthören an diesen Wörtern, mit denen Martha nach Hause kam, die sie Helene einmal sagte, zweimal, um sie selbst bald zu vergessen. Helene wollte mehr wissen über die Rautengrube und die Arterien der Schädelbasis, doch Martha geriet ins Stottern, sie wirkte ertappt. Ratlos blickte sie Helene an und gestand, dass sie nur die Worte kenne, keinen Ort und keine Geschichte dafür. Sie strich ihrem Engelchen über den Kopf und tröstete Helene, nicht mehr lange und sie würde studieren gehen, wenige Jahre nur noch, sie werde sehen. Sobald Marthas Erzählfluss stockte, sie womöglich selig neben Helene eingeschlafen war, wurde Helene von weniger angenehmen Gedanken erfasst. Ihr fiel jetzt ein, dass der Vater sie zwar neuerdings die Buchhaltung für die Druckerei machen ließ, sich aber lediglich sanft und leise in Selbstgesprächen darüber ärgerte, wenn Helene irgendwo einen Fehler gefunden hatte. Ihm wollte einfach keinerlei Klugheit an seiner jüngeren Tochter auffallen. Solange Helene am Abend auch im Bürozimmer des Vaters sitzen blieb und rechnete, kein einziges Mal war der Vater erstaunt und freute sich. Sie errichtete ganze Zahlenkolonnen, nur, damit er einmal stehenbleiben und sich wundern und bemerken würde, dass sie mit seinen Zahlen bald leichter umging als er selbst. Doch der Vater sah Helenes Bemühungen nicht. Als die Lehrerin die Eltern ins Schulhaus am Lauengraben bat und mit dem Vater darüber sprach, dass Helene im Laufe des Schuljahrs in manchen Fächern den Stoff der ersten vier Jahre überflogen habe, lächelte er freundlich und unaufmerksam, wie es seine Art war, er zuckte mit den Achseln und blickte voller Zärtlichkeit zu seiner Frau, die umständlich eine mitgebrachte Nähnadel aus dem Revers ihres Mantels zog und das zu Hause eingesteckte Stopfgarn aus der Manteltasche holte, um sich nunmehr anzuschicken, inmitten der Unterredung und trotz der Gegenwart dieser Lehrerin mit dem roten Garn ein Loch in ihrem malvenfarbenen Kleid zu stopfen. Während die Eltern erleichtert waren, dass Helene nichts gestohlen und sich keine andere Unartigkeit hatte zuschulden kommen lassen, begriffen sie nicht, warum die Lehrerin sie in die Schule bestellt hatte und ihnen
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