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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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sagte, dass sie bald nicht mehr wisse, was sie diesem Mädchen beibringen könne. Sie werde sie schlicht lesen lassen, Reime und Märchen, wenn die Eltern nichts dagegen einwendeten. Die Mutter biss mit den Zähnen das Garn durch, ihr Loch war geflickt. Der Hund schlug mit seinem langen Schwanz ungeduldig gegen das Bein seines Herren. Dem Vater war der fragende Blick der Lehrerin unangenehm. Es war doch nicht an ihm, der Lehrerin zu sagen, was sie mit Helene machen sollte.
    Bei ihrer Rückkehr sprachen sie mit Helene kein Wort über den Besuch bei der Lehrerin. Es wirkte, als sei ihnen Helene peinlich.
    Helene wollte gern in der Schule bleiben, sie hatte kleine und erhebliche Zweifel an dem Traum, den Martha für sie ersponnen hatte. Niemals hatte einer der Eltern das Wort Heidelberg oder Studium in den Mund genommen. Helene wollte keinesfalls vorzeitig aus der Schule nach Hause zur Mutter geschickt werden und deren Mottengespinste aus den Schränken sammeln.
    Was willst du einmal werden? Manchmal fragte Martha Helene das.
    Dabei kannte sie die Antwort, es war immer dieselbe: Ich werde Krankenschwester, wie du. Helene drückte ihre Nase an Marthas Schulter und sog den Duft ihrer Schwester ein. Martha duftete wie ein Brötchen und nur wenig nach dem Essig, mit dem sie sich bei Dienstschluss die Hände abrieb. Helene beobachtete Marthas Lächeln. Freute sich Martha über Helenes zuverlässige Antwort? Schmeichelte es ihr, dass die Kleine vorgab, dasselbe zu wollen wie sie? Doch im nächsten Augenblick erkannte Helene, dass Marthas Lächeln nicht zu Helenes Antwort gehörte. Martha strich über die goldgeprägten Buchstaben auf dem Einband.
    Was für ein Geschenk.
    Lass mich sehen.
    Schließ die Augen, so, ja. Du kannst blind lesen.
    Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm, doch anstatt sie zu dem Buchdeckel zu führen, fühlte sie Marthas Bauch, ihren Bauchnabel, der schon in einer kleinen Grube lag, im Gegensatz zu Helenes, der wie ein Knopf vorstand. Helene kniff beide Augen fest zusammen und spürte, dass Martha ihren Finger nahm und ihn in die Höhle des Bauchnabels drückte.
    Und, was kannst du entziffern?
    Helene fühlte die leichte Wölbung von Marthas Bauch. Wie weich Marthas Haut war. Im Gegensatz zum Bauch der Mutter, der sich vor allem unterhalb des Nabels in die Breite zog, hatte Martha einen schönen Bauch, der sich nur sanft der Länge nach andeutete, Helene ertastete Marthas Rippen und dachte an die goldenen Buchstaben auf dem senffarbenen Buch, die sie längst heimlich entziffert hatte. Byron stand da. Also sagte sie: Byron.
    Byron. Martha verbesserte Helenes Aussprache. Lass die Augen zu und lies weiter.
    Helene hörte an Marthas Stimme, dass Martha von ihren blindlesenden Fähigkeiten begeistert war. Lies weiter, forderte Martha sie ein zweites Mal auf. Und Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und Helenes Hand über ihren Bauch führte, kreisend, wie sie Helenes Hand über ihre Hüfte führte, streichend. Lies.
    Vermischte lyrische Gedichte.
    Helene hatte sich die goldenen Buchstaben gemerkt und dachte seit geraumer Zeit darüber nach, was wohl lyrische Gedichte sein mochten. Doch dann nahm Martha Helenes Hand und legte sie auf den untersten Rippenbogen.
    Kannst du auch unter die Haut blicken, Engelchen? Weißt du, was hier unter den Rippen liegt? Hier liegt die Leber.
    Schwesternwissen. Merk dir das gut, das musst du später alles lernen. Und hier sitzt die Galle, dicht daneben, ja. Helene lag das Wort Milz auf den Lippen, sie wollte es nicht sagen, nur die Augen wollte sie öffnen, aber Martha bemerkte es und befahl: Lass die Augen zu.
    Helene spürte, wie Martha ihre Hand nahm und sie zum anderen Rippenbogen führte und wie sie sie schließlich höher hinauf schob, zu ihrer Brust.
    Obwohl sie die Augen fest verschlossen hielt und sie nicht sehen konnte, was sie fühlte, bemerkte Helene, wie ihr Gesicht plötzlich heiß wurde. Martha führte ihre Hand, und Helene fühlte deutlich die Spitze der Brust, das Feste, das Weiche, die vollkommene Rundung. Hinab ins Tal, wo sie einen Knochen spürte.
    Rippchen.
    Martha antwortete nicht mehr, schon ging es den anderen Hügel hinauf. Helene blinzelte, aber Marthas Augen prüften sie nicht mehr, sie wanderten ziellos unter den halb geschlossenen Lidern, entzückt, und Helene sah, wie sich Marthas Lippen leicht öffneten, bewegten.
    Komm her.
    Marthas Stimme kratzte, sie zog mit der anderen Hand Helenes Kopf zu sich und drückte ihren Mund auf Helenes

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