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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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sie nach Marthas Geburt verloren hatte, war ihr als Aufforderung erschienen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das Pendel der Wanduhr zerschlug die Zeit in kleine zählbare Einheiten.
    Behutsam näherte Helene sich der Hand der Mutter, sie wollte sie küssen. Die Hand bewegte sich, sie wurde fortge zogen. Helene neigte sich über das mütterliche Gesicht. Aber ohne ihr einen ihrer befremdlichen Blicke zu schenken, wandte die Mutter den Kopf. Ihre vier totgeborenen Kinder sollten Jungen gewesen sein. Einer nach dem anderen war gestorben, zwei noch im Mutterleib, die anderen beiden kurz nach der Geburt. Jedes von ihnen hatte bei der Geburt schwarzes Haar, dichtes, langes, schwarzes Haar und eine dunkle, fast blaue Haut. Der vierte Sohn hatte am Morgen seiner Geburt geröchelt, mühsam geröchelt, es hatte geklungen, als atme er tief ein, dann ist es still gewesen. Ganz so, als könnte die Luft seinen kleinen Körper nicht mehr verlassen. Dabei hatte er gelächelt, wo doch sonst Säuglinge nicht lächeln. Die Mutter hatte das tote Kind Ernst Josef genannt, sie hatte das tote Kind in ihren Arm geschlossen und über Tage nicht loslassen wollen. Es lag in ihren Armen mit ihr im Bett und wenn sie zum Häuschen musste, nahm sie es mit. Mariechen hatte Martha und Helene später davon erzählt, wie sie vom Vater beauftragt worden war, nach dem Rechten zu sehen, und wie sie ins Zimmer der Mutter getreten war, wo die Mutter mit offenem Haar am Bettrand gesessen und ihr totes Kind gewiegt hatte. Nach Tagen erst hörte man sie beten und sei erleichtert gewesen. Die Mutter hatte für Ernst Josef ein langes Kaddisch gesprochen. Obwohl es niemanden gab, der Amen sagte, niemanden, der mit ihr trauerte. Der Vater und das Mariechen waren in Sorge um sie, keiner von ihnen weinte um das tote Kind. Wann immer jemand in den folgenden Tagen die Mutter ansprach, etwas zu ihr sagte, sie etwas fragte, wurde ihre Stimme lauter, ein Gemurmel, ein Sprechen, so schien es, als spreche sie ununterbrochen vor sich hin und werde das Sprechen nur bis zur Unhörbarkeit leise in den Stunden, in denen niemand das Wort an sie richtete. Bis heute hörte man sie jeden Tag beten. Die fremden Laute aus dem Mund der Mutter klangen wie eine ausgedachte Sprache. Helene konnte sich nicht vorstellen, dass die Mutter wusste, was sie da sprach. Die Worte hatten etwas Einschließendes und Abschließendes, sie besaßen in Helenes Ohren keinerlei Bedeutung und schirmten das Haus doch ab, ruhten wie ein Schweigen über dem Haus, ein geräuschvolles.
    Wenn das Mariechen am Morgen die Gardinen aufzog, zog die Mutter sie wieder zu. Seither gab es lediglich ein, zwei Monate im Jahr, in denen die Mutter aus ihrer Dunkelheit erwachte, ihr fiel ein, dass sie ein lebendiges Kind hatte, ein Mädchen namens Martha, mit dem wollte sie spielen, albern, als sei sie selbst ein Kind. Es war Ostern und da kam der Mutter das Eierschieben auf dem Protschenberg gelegen. Die Mutter wirkte aufgekratzt, sie trug einen ihrer federbesetzten Hüte. Sie warf ihren Hut wie eine Wurfscheibe in die Luft und ließ sich ins Gras fallen, sie rollte über die Wiese den Hang hinab und blieb unten liegen. Martha lief hinterher. Aus sicherem Abstand schauten Damen und Herren mit Sonnenschirmen her über, sie wunderten sich nicht mehr über die Fremde, verärgert über den Anblick schüttelten sie den Kopf und wandten sich ab, ihre Eier mussten ihnen wichtiger erscheinen als jene Frau, die soeben den Hang herabgerollt war. Marthas Vater war seiner Frau und der Tochter gefolgt, er beugte sich zu seiner Frau und hielt ihr die Hand, damit sie aufstehe. Die damals achtjährige Martha hielt die andere Hand der Mutter. Die Mutter stieß ihr kehliges Lachen aus, sie sprach davon, dass sie seinen Gott mehr liebe als ihren, die beiden aber ein und derselbe seien, nämlich kein anderer als der gemeinsame Spuk einiger wahnfreudiger Erdbewohner, Menschenwürmer, die seit Jahrhunderten und Jahrtausenden einen Großteil ihres Lebens mit dem Nachdenken über eine plausible Rechtfertigung ihres Daseins zubrächten. Seltsame Eigenart dieser Lebewesen, lächerlich.
    Um sie zu beruhigen, brachte Ernst Ludwig Würsich seine Frau nach Hause.
    Martha wurde dem Hausmädchen anvertraut, und der Mann setzte sich zu seiner Frau ans Bett. Niemals erwarte er von seiner Frau Respekt für seine Person, das sagte er sanft, einzig für Gott bitte er sie um Schweigen. Er streichelte seiner Frau über die Stirn, Schweiß rann ihre Schläfe

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