Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
sie kniete am Kopfende des Bettes nieder.
Sind Sie wach? Helene flüsterte. Seit der Rückkehr des Vaters konnte sie nicht anders als Sie zu ihm sagen. Ihm fehlte die Stimme und Aufmerksamkeit, um die Fremdheit zwischen ihnen zu bannen.
Vater, ich bin es, die Kleine. Ihr Goldblatt.
Helene nahm die Hand des Vaters in ihre und küsste sie. Bestimmt fragen Sie sich, was wir die ganze Zeit während Ihrer Abwesenheit gemacht haben. Ihre Stimme klang beschwörend. Es war nicht erkennbar, ob der Vater hörte, was sie sagte. Wir sind in die Schule gegangen. Martha hat mir Etüden beigebracht, die Ödnis, dann das Wohltemperierte Klavier, Vater. Ich fürchte, mir fehlt die Geduld für das Klavierspiel. Wir haben den Arthur Cohen vor gut drei Jahren mit seinem Gepäck zur Eisenbahn gebracht. Hat Martha Ihnen davon erzählt? Stellen Sie sich vor, der Arthur konnte nicht in den Krieg. Sie hatten ihn nicht erfasst.
Jud, unterbrach Grumbach Helenes Raunen, er lehnte sich in seinem Ohrensessel zurück und fügte mit einem abfälligen Schnalzen hinzu, wer erfasst den schon?
Helene drehte sich nur halb zu ihm um, so weit, dass er ihren Blick auf seinem Handrücken an Marthas Kleid bemerken musste, und kniff die Augen zusammen. Der Gast schnaufte, ließ aber seine Hand an Marthas Schürze. Das musste ihm der angemessene Lohn seines Schweigens sein. Helene wandte sich zurück zum Vater, küsste die Innenfläche seiner Hand, den Zeigefinger, jeden Finger einzeln, und fuhr fort.
Als Arthur sich meldete, hieß es, ohne nachweislichen Wohnsitz in Bautzen sei er nicht erfasst und man wolle ihn keinem Regiment zuordnen. Arthur protestierte, bis man ihn untersuchte und ihm sagte, man könne ihn wegen einer Rachitis im Krieg nicht gebrauchen. Er solle nur nach Heidelberg fahren, wenn er das notwendige Geld und die Empfehlungen beisammen habe. Von einem jungen Arzt habe man im Zweifel mehr als von einem rachitischen Soldaten.
Der Vater räusperte sich, Helene fuhr fort.
Sie erinnern sich an ihn? Arthur Cohen, der Neffe des Peruquiers. Er hat hier in Bautzen die Schule besucht. Sein Onkel hat sie ihm bezahlt. Ein guter Schüler.
Der Vater begann jetzt lauter zu husten und Martha sah von ihrer Tätigkeit am Waschtisch auf, um einen strengen Blick auf Helene zu werfen. Ihr Blick verriet, dass sie sich vor einer Offenbarung ihrer Bekanntschaft mit Arthur Cohen fürchtete. Weder der Vater noch sein Gast, niemand sollte von den Spaziergängen an die Spree etwas erfahren.
Er studiert jetzt in Heidelberg. Helene machte eine Pause, sie atmete tief, es fiel ihr nicht leicht, die Worte Heidelberg und die erläuternden auszusprechen: Botanik. Genau, er studiert dort Botanik. Und er hat uns einen Brief geschickt, darin schrieb er, dass es dort Frauen gibt, die Medizin studieren.
Der Vater hustete jetzt so laut, dass Helenes Worte untergingen, obgleich sie mit aller Mühe ihre Stimme angehoben hatte. Was noch konnte sie dem Vater zu Heidelberg und dem Studium sagen? Was würde ihn begeistern, sie zögerte, doch schon im nächsten Augenblick erbrach sich der Vater mitsamt dem Husten. Helene sprang zurück, sie riss dabei den Stock des Gastes mit sich. Hätte sie sich nicht an Marthas Kleid festgehalten und sich gleich darauf von den Knien des hinter ihr sitzenden Gastes abgestoßen, sie wäre wohl rückwärts gestolpert und dabei unmittelbar auf den Gast gefallen. Da dieser vornübergebeugt saß, wohl auf dessen Kopf und Schulter.
So aber landete Helene auf dem Boden. Ihr Blick fiel auf die vielen Abzeichen, mit denen der Stock des Gastes geschmückt war. Weimar. Cassel. Bad Wildungen. Helene erhob sich und gab den Stock zurück.
Der Gast schüttelte den Kopf. Er stand auf, nahm seinen Holzarm vom Bett und stellte sich neben Martha. Er flüsterte so laut, dass Helene ihn hören musste: Ich werde um deine Hand anhalten.
Nein, das werden Sie nicht. In Marthas Stimme klang mehr Verachtung als Furcht.
Doch, sagte der Gast. Dann eilte er die Treppe hinunter ins Freie.
Martha und Helene wuschen ihren Vater. Martha zeigte Helene, wie sie die Kompressen am Stumpf des Beines erneuerte und in welchem Verhältnis das Morphium gespritzt werden musste. Vorsicht war geboten, denn die letzte Gabe lag nicht lang zurück. Unter Marthas wachenden Augen setzte Helene dem Vater ihre erste Spritze. Ihr gefiel das gelöste Lächeln, das sie kurz darauf im Gesicht des Vaters entdeckte, ein Lächeln, das zweifellos ihr galt.
Schon am nächsten Tag gegen Mittag
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