Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
einen Tee?
Nein, ich möchte auf sie warten, sagte Ernst Ludwig Würsich, und mit jedem Wort sprach er langsamer.
Wie geht es Ihnen? Die Stimme vom Mariechen war höher als sonst, glockenklar, ihr musste daran liegen, das Warten auf die Dame des Hauses zu verkürzen, es gar in Vergessenheit geraten zu lassen.
Wie es mir geht? Der Vater blickte aus dem übrig gebliebenen Auge in die Leere. Nun, meist fühle ich mich als der, den meine Frau in mir sieht. Er unterdrückte ein Stöhnen. Es schien, als lächelte er.
Obwohl das Mariechen gleich zu Anfang der Mutter Bescheid gegeben haben wollte, erschien die Dame nicht. Helene wärmte die Suppe vom Mittag auf und Martha verköstigte den Pfleger, der bald darauf verabschiedet werden konnte. Ernst Ludwig Würsich fiel das Sprechen so schwer wie ein Aufrichten. Die ersten Stunden verbrachte er zusammengesunken in seinem großen Sessel. Die Töchter saßen bei ihm. Sie gaben sich Mühe. Sie wollten sein fehlendes Bein nicht beachten. Nur der Blick ins Gesicht fiel schwer, es war, als gleite der Blick vom geöffneten Auge zur zugewachsenen Augenhöhle, immer wieder, er rutschte. Das Gleiten wurden zum Schliddern. Die Mädchen suchten Halt. Es gelang ihnen nicht, nur auf das eine Auge zu schauen. Sie fragten nach den vergangenen Jahren. Ihre Fragen waren allgemeine Fragen, schon um die persönliche Anrede zu vermeiden, fragten die Schwestern nach Sieg und Niederlage. Ernst Ludwig Würsich konnte keine ihrer Fragen beantworten. Wenn sich sein Mund verzog, sah es aus, als habe er große Schmerzen und versuche dennoch ein Lächeln. Ein Lächeln, das diese jungen Frauen, zu denen er seine Töchter gediehen fand, vertrösten sollte. Die Zunge klebte ihm im Mund, der Schmerz füllte ihn aus.
Helene klopfte an die Tür ihrer Mutter und schob sie ungeachtet der dahinter gestapelten Bücher und Kleider und Stoffe auf.
Unser Vater ist heimgekehrt, flüsterte Helene in die Dunkelheit.
Wer?
Unser Vater, dein Mann.
Es ist nachts, ich schlafe schon.
Helene hielt still. Vielleicht hatte die Mutter ihre Worte nicht verstanden? Helene stand in der Tür und wollte noch nicht gehen.
Nun geh schon. Ich werde kommen, sobald es mir besser geht.
Helene zögerte. Sie konnte nicht glauben, dass die Mutter in ihrem Bett bleiben wollte. Doch dann hörte sie, wie sich die Mutter wälzte und Decken über sich schlug.
Leise zog Helene sich zurück, sie schloss die Tür.
Offenbar ging es der Mutter an den folgenden Tagen nicht gut genug. Und so wurde der verletzte Hausherr an ihrer Zimmertür vorbei hinauf ins oberste Stockwerk getragen und dort auf die rechte Seite des Ehebettes gelegt. Innerhalb weniger Tage konnte das eingestaubte eheliche Schlafgemach in ein Kranken zimmer umgewandelt werden. Auf Marthas Geheiß half Helene dem Mariechen einen Waschtisch hinaufzutragen. Während der beschwerlichen Reise hatte sich der Stumpf des Beines erneut entzündet. Hinzu kamen jetzt leichte Temperaturen und jene alle anderen Sinne betäubenden Schmerzen, die er nicht zum ersten Mal im fehlenden Bein spürte.
Dem Vater zuliebe ordnete Martha eine wohldosierte Trunkenheit an. Sie sollte so lange dauern, bis es Martha gelungen wäre, aus dem Städtischen Krankenhaus Morphium und Kokain in wirksamen Mengen zu entwenden. Seit geraumer Zeit arbeitete Martha bei Leontine im Operationssaal; sie kannte die Augenblicke, in denen sich Substanzen entwenden ließen. Die Oberschwester hatte zwar als einzige den Schlüssel zum Giftschrank, aber es gab gewisse Situationen, in denen sie den Schlüssel Leontine anvertrauen musste. Wer wollte später noch messen, wieviel Milligramm dieser oder jener Kranke erhalten hatte?
Am nächsten Morgen nähte das Hausmädchen ein neues Nachthemd für den Vater. Das Fenster stand offen, von draußen waren die Krähen zu hören, die in der jungen Ulme saßen. Das Mariechen hatte die Federbetten der Kinder zum Lüften auf das Fensterbrett gelegt. Die Betten dufteten am Abend nach Holz und Kohle. Helene war hinunter in die Druckerei gegangen und saß seit geraumer Zeit über dem dicken Buch mit der monat lichen Abrechnung, als es läutete.
Vor der Tür wartete ein feingekleideter Herr. Er stand leicht vornübergebeugt. Der linke Arm fehlte ihm, mit dem rechten stützte er sich auf einen Stock. Helene kannte den Mann vom Sehen, er war früher manchmal zu Gast gewesen.
Grumbach, stellte er sich vor. Er räusperte sich. Er habe gehört, dass sein alter Freund und Buchdruckmeister, der
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