Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
der Professor. Sein Blick haftete auf ihrem großen und flachen Gesicht, das bestimmt nichts verbergen konnte, schwer schien sein Blick, er drückte sich in sie, sie wollte etwas erwidern, seinen Blick abwehren, aber sie erkannte ein Begehren darin, das sie eilig wegsehen und ihren Tränen jetzt freien Lauf ließ. Sie nahm ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich die Augen ab.
Helene. Die sanfte Stimme des Professors schmiegte sich in ihr Ohr. Weinen Sie nicht, Kind. Sie haben ja niemanden, ich weiß. Niemand, der für Sie sorgt und Sie schützt, wie nur ein Vater es könnte.
Diese Worte ließen Helene noch heftiger weinen, sie wollte es nicht, aber sie schluchzte jetzt und ließ es zu, dass der Professor seine Hand auf ihre Schulter und sogleich seinen Arm um sie legte.
So hören Sie doch auf, flehte er. Helene, verzeihen Sie mir meine Strenge. Helene. Der Professor drückte sie nun vorsichtig an sich, Helene spürte, wie sein Bart ihr Haar berührte, wie er den Kopf senkte und Mund und Nase auf ihrem Haar lagen, als wären sie Mann und Frau und gehörten zusammen, als Mann und Frau. Es war das erste Mal, dass ihr ein Mann so nahe war. Er roch nach Tabak und Wermut und vielleicht nach Mann. Helene bemerkte das Flimmern in ihrer Brust, ihr Herz raste. Ihr wurde heiß und kalt und dann war ihr übel. Sie musste das Atmen vergessen haben. Schließlich dachte sie nur noch daran, dass er sie loslassen müsse, weil sie ihn andernfalls von sich stoßen musste, mit aller Kraft, von sich weg, wie es sich wohl gehörte für ein junges Mädchen.
Und er ließ los. Ganz plötzlich. Einfach so. Er trat einen Schritt zurück und wandte sich ab. Ohne sie anzusehen sagte er mit trockener Stimme: Ich werde Sie mitnehmen, Helene, nach Dresden, Sie und Ihre Schwester. Sie sagen, die Fahrkarten für die Weiterreise haben Sie?
Helene nickte.
Der Professor trat hinter seinen Schreibtisch und rückte den Stapel Bücher auf Kante.
Natürlich werde ich Ihnen in Dresden die Protokolle schreiben, beeilte sich Helene zu sagen. Ihre Stimme klang leise.
Wie bitte? Der Professor sah sie jetzt fragend an. Protokolle? Ach, das meinen Sie. Nein, Schwester Helene, Sie werden keine Protokolle für mich schreiben, jetzt nicht mehr.
In den kommenden Wochen bestellte der Professor nur noch selten Schwester Helene an seine Seite zum Operationstisch. Auch diktierte er ihr keine Berichte und Briefe mehr. Und jede Tätigkeit, die abseits des Operationstisches wartete, unterstand den strengen Anweisungen der Oberschwester. Helene reinigte die Instrumente, sie wusch und fütterte die Patienten in den Betten und leerte die Bettpfannen. Sie kratzte den Alten den Belag von der Zunge und salbte ihre Wunden. Da ihr der Schlüssel zum Giftschrank noch nicht entzogen worden war, konnte sie winzige Mengen Morphium für Martha beiseiteschaffen. Durch die Flügeltür hörte sie das Schreien und Winseln der Frauen aus dem Kreißsaal, und an Sonnentagen beobachtete sie, wie die Frauen im Garten ihren Neugeborenen den Schnee zeigten. Die Station der Wöchnerinnen war in der festen Hand der Hebammen. Wollte Helene hierbleiben, wäre sie wohl hinübergegangen und hätte ihre Hilfe angeboten. Aber hätte sie hierbleiben wollen, würde sie noch am Operationstisch stehen und dem Professor seine Instrumente reichen, die Nadel nehmen und Bäuche zunähen. Helene schrubbte die Böden. Der Vorteil war, dass sie nun häufiger mit Martha arbeitete und sie gemeinsam beim Aufwischen der Flure über die Zukunft und Berlin sprechen konnten. Ungeachtet der Operationen, an denen Helene kaum noch teilnahm, zumal sich der Professor eine neue Schwester an die Seite geholt hatte, ließ der Professor an der Einlösung seines Versprechens nicht den geringsten Zweifel. Es galt nur zu warten, bis es März und bald Ende des Monats wurde.
Es gelang dem Professor mit Hilfe seines Assistenzarztes, den Koffer der beiden Schwestern am Heck seines Wagens zu befestigen. Sodann durften die jungen Frauen aufsteigen. Während der Fahrt belehrte er die Mädchen schreiend, der laute Motor und die sonstigen Fahrgeräusche nötigten ihn dazu. In dieser Zeit wäre es wichtig, seine Werte in bleibenden Gütern anzulegen. Ein Automobil wie seines wäre da gerade das Richtige. Ob sie auch einmal fahren wollten?
Unbedingt. Martha sollte als erste steuern dürfen. Nach wenigen Metern lenkte sie das Gefährt geradewegs auf ein Feld. Die noch schwarzen Furchen des Ackers gaben nach, als das Fahrzeug in
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