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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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also sollte eine Frau studieren? Leontine sei eine hervorragende Schwester gewesen, wirklich, exzellent. Ein Jammer wäre es um sie. Wer hätte das ahnen können? Als wahrer Verrat erscheine es ihm, dass sie seine Empfehlung bedenkenlos in die Tasche gesteckt und nach Berlin geheiratet habe!
    Helene schlug sich die Hände vor das Gesicht. Niemals hätte sie erwartet, dass der Professor einen derartigen Zorn gegen Leontine hegte. Wann immer er vor den anderen Schwestern und den Ärzten an sie erinnerte, sprach er voller Respekt und Ehrerbietung von Schwester Leontines Fähigkeiten. Helene hatte geglaubt, einen Stolz in seiner Stimme zu hören, wenn er berichtete, dass seine kleinste Schwester, wie er sie nannte, heute in Berlin studierte.
    Nehmen Sie Ihre Hände weg, Helene, rief er und griff mit seinen nach ihren Händen, um sie aus ihrem Gesicht zu zerren, um ihr in die Augen zu sehen, wobei seine Hände ihre Brüste berühr ten, mit dem Handrücken und so grob, dass Helene sich Mühe gab anzunehmen, er bemerke es nicht. Er zog sie jetzt mit beiden Händen am Kopf von ihrem Stuhl hoch. Seine Hände pressten ihre Ohren so fest an den Kopf, dass es schmerzte. Was bilden Sie sich ein, Schwester? Glauben Sie, Sie könnten es jemals besser haben als an meiner Seite, auf meiner Station? Sie dürfen meine Instrumente halten, wenn ich Köpfe öffne, selbst bei der Operation meiner Frau habe ich Sie nähen lassen. Was wollen Sie?
    Helene wollte seine Frage beantworten, aber in ihrem Kopf war es taub und still.
    Der Professor ließ nun ihren Kopf los und ging mit schnellen Schritten auf und ab. Helene spürte, wie ihr die Ohren weh taten, wie sie glühten. Seit sie zum ersten Mal bei einer Operation dabei gewesen war und seine Hände entdeckt hatte, die ruhig und sicher wirkten, fast sanft, so als spiele er ein Instrument und lange nicht nach Knochen und Sehnen, Gewächsen und Arterien, seit diesem ersten Anblick seiner Hände, der Beobachtung der feinen und genauen Bewegungen einzelner Finger, hatte sie ihn bewundert. Anfangs hatte sie ihn gefürchtet, ob ihrer Bewunderung und seiner Fähigkeiten, später lernte sie ihn schätzen, gerade weil er diese niemals missbrauchte, um einen seiner Mitarbeiter zu demütigen, weil er stets im Dienste der Patienten und seiner Kunst, der medizinischen Kunst, stand. Noch nie hatte Helene ein lautes Wort, geschweige denn eine grobe Geste an ihm bemerkt. Selbst wenn sie zehn Stunden am Stück gearbeitet hatten, einmal fünfzehn Stunden, die halbe Nacht hindurch, nach dem Unglück in der Waggonfabrik, stets schien der Professor von einer göttlichen Ruhe beseelt, die nicht nur an Selbstgewissheit, auch an Güte denken ließ. Jetzt drehte der Professor die Lampe seines Schreibtisches so, dass sie Helenes Augen blendete.
    Übermut? Der Professor fragte, als wolle er eine Anamnese stellen. Wohl kaum, gab er sich zur Antwort. Er trat einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Kinn in seine Hand.
    Gedankenlosigkeit? Gewiss. Dabei legte der Professor den Kopf schief und seine Stimme wurde sanft. Vielleicht: Dummheit? Als überlege er, ob Helene mit dieser Diagnose zu helfen sei.
    Helene senkte die Augen. Verzeihen Sie, bitte.
    Verzeihen? Dummheit ist das Letzte, was ich verzeihen könnte. Sagen Sie mir offen und frei heraus, was versprechen Sie sich von Berlin, Kind?
    Helene sah auf den Boden, der blank gewichst war. Wir, wir, sie stammelte und suchte nach Worten, die mehr sagen mochten, als sie denken konnte. Die heutige Zeit, die Teuerung. Herr Professor. Die Menschen wollen vor den Stadtrat ziehen, sie wollen Arbeit und Brot fordern. Auch hier im Krankenhaus gab es Gerüchte um Entlassungen. Davon müssen Sie doch erfahren haben, Herr Professor? In Berlin werden Martha und ich Möglichkeiten haben, bitte verstehen Sie, Möglichkeiten. Wir werden dort arbeiten, studieren – vielleicht.
    Studieren – vielleicht? Sie haben ja gar keine Vorstellung, was das bedeutet, Kind. Wissen Sie, welchen Einsatz ein Studium erfordert, welche Beherrschung des Geistes, welche Fordernisse? Denen sind Sie nicht gewachsen. Es tut mir leid, Ihnen das offen sagen zu müssen, Kind, aber ich möchte Sie warnen. Ja, ich muss Sie warnen. Und die Kosten, Sie machen sich keine Vorstellung von den Kosten. – Wer soll für Sie aufkommen, wenn Sie studieren? Sie sind doch kein Freiwild, das als Dirnen durch die Welt tingeln wollte.
    Gewiss, Herr Professor, gewiss. Mehr fiel Helene nicht ein. Sie schämte sich.
    Gewiss, murmelte

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