Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
die Erde fuhr. Dann steckte es fest und dampfte. Alle drei mussten aussteigen. Auf dem Wasser, das in den Furchen des Ackers stand, hatte sich eine dünne Haut aus Eis gebildet, die knackte, wenn man sie eintrat. Während Martha sich ihren Arm rieb, schoben und stemmten der Professor und Helene mit aller Kraft, bis sie das Automobil wieder zurück auf die Straße geschafft hatten. Nun wollte der Professor nichts mehr davon wissen, dass eine der Schwestern fahren könnte.
Noch vor Mittag fuhren sie über das Blaue Wunder. Der Professor schwärmte von der Pracht und Genialität der Konstruktion, aber Martha und Helene konnten nur metallene Streben erkennen, die neben dem Fenster in die Höhe ragten und deren sagenumwobenes Blau nichts war gegen die Farbe des Stromes. Viel prächtiger erschien ihnen die Elbe, die hoch über ihre Ufer stand. Die Fahrt durch das Villenviertel dauerte länger als gedacht, einmal mussten sie anhalten und Wasser nachfüllen. Dann ging alles sehr schnell, Droschken überholten sie, Verkehr kam auf. Helene wollte gern den Hafen besichtigen, aber die Zeit drängte. Der Professor brachte die Schwestern wie versprochen zum Hauptbahnhof. Die Uhren an den zwei Türmen zeigten unterschiedliche Zeiten; der Professor war sicher, dass man der um zehn Minuten schnelleren glauben musste. Die Größe der dreischiffigen Stahlbogenhalle ließ Martha und Helene staunen. Zum ersten Mal sahen sie solche Stahlbögen für ein gewölbtes gläsernes Dach. Die Sonne blitzte durch graue Wolken, es würde regnen. Menschenmassen drückten sich vor den prunkvollen Schaufenstern der Geschäfte und strebten einem der vielen Bahnsteige entgegen. Ein Korb Zitronen fiel um und die Menschen bückten sich nach den kullernden gelben Früchten, als gebe es kein Morgen. Auch Helene musste sich bücken und ließ eine Zitrone in ihrer Tasche verschwinden. Zwei kleine Jungen bestürmten Martha und Helene, ihnen ein Bündel Weidenkätzchen abzukaufen. Eine alte Frau mit einem Säugling im Arm hielt die Hand auf. Es konnte unmöglich ihr Kind sein, Helene musste denken, dass die Mutter im Kindbett gestorben sein könnte. Aber was fiel ihr ein, den Tod einer Mutter zu denken? Ehe sich die Schwestern versahen, lud ein Kofferjunge ihr Gepäck auf seinen Wagen und lief ihnen mit den Rufen Platz da, Platz da voraus. Der Professor ermahnte Martha und Helene, sie sollten in dem Gedränge niemals ihre Taschen und den Kofferjungen aus dem Auge verlieren. Trotz Widerrede bestand der Professor darauf, die beiden Schwestern zu ihrem Zug zu bringen. Er begleitete sie auf den Bahnsteig, zum Gepäckwagen, zu ihrem Waggon und schließlich bis zu ihren Sitzplätzen in ihrem Abteil der ersten Klasse. Mit einem gefassten Lächeln überreichte er Martha ein kleines Päckchen mit Proviant, das ihm seine Frau am Morgen zurechtgemacht hatte. Brühwurst und hartgekochte Eier, sagte er leise. Wie schon auf der bisherigen Reise vermied es der Professor, Helene anzusehen. Doch er war freundlich, er reichte beiden die Hand und stieg aus dem Zug. Vielleicht würde er vor dem Fenster auf dem Bahnsteig erscheinen und mit einem weißen Taschentuch winken? Aber nein, sie sahen ihn nicht wieder.
Der Zug zischte. Nur stockend fuhr er aus dem Dresdner Bahnhof aus. Das Wummern der Lok war so ohrenbetäubend, dass Helene und Martha nicht miteinander sprachen. Noch drängelten sich die Reisenden auf dem Gang und suchten ihre Abteile und Sitzplätze. Helene und Martha saßen schon länger auf ihren samtgepolsterten Sitzen. Zwar hatten sie in der Aufregung vergessen, ihre Mäntel und Handschuhe abzulegen, aber sie lehnten sich vor und zur Seite, um keinen Blick aus dem Fenster zu verpassen. Sie hatten das bestimmte Gefühl, dass mit ihren vornehmen Plätzen, diesem Fenster und diesem Zug ein neues Leben begann, eines, das nichts mehr mit Bautzen zu tun haben würde, eines, das sie die letzten Wochen mit der fluchenden und dämmernden Mutter vergessen lassen sollte. Linkerhand ragten in der Ferne Kräne in den Himmel, die bestimmt zu dem Hafen und der Werft gehörten, der vom Zug aus nicht zu sehen war. Gewiss würde sich das Mariechen gut um die Mutter kümmern, sie wollten ihr zu jedem Monatsersten ausreichend Geld schicken, das hatten Martha und Helene beim Abschied versprochen. Wofür sonst gab es die Breslauer Mieteinnahmen? Gemeinsam hatten sie beschlossen, dass das Mariechen vorerst mit der Mutter in der Tuchmacherstraße wohnen bleiben sollte. Das Mariechen dankte
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