Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
ihnen für diesen Vorschlag, sie hätte wohl auch nicht gewusst, wohin sie in ihrem greisen Alter nach den siebenundzwanzig Dienstjahren in der Familie hätte ziehen sollen.
Die letzten Häuser der Altstadt zogen vorüber, der Zug fuhr so langsam auf die Marienbrücke, dass man hätte laufen können, die Elbwiesen waren noch mehr schwarz als grün. Die Elbe füllte ihr Bett und trat hier in der Stadt kaum über die Ufer. Ein mit Kohle beladener Kahn schleppte sich träge gegen den Strom. Helene musste Zweifel haben, dass er es bis Pirna schaffen würde. Wieder kamen Häuser, Straßen, Plätze, der Zug fuhr durch einen kleinen Bahnhof. Es dauerte, bis die Stadthäuser vorübergezogen waren und auch die flachen Häuschen und Gärten der Vorstadt hinter ihnen lagen. In der Ferne glaubte Helene die Ausläufer der Lausitzer Berge zu erkennen, eine freudige Erregung und Erleichterung erfasste sie, als auch diese aus ihrem Blickfeld verschwanden und der Zug endlich durch Auen und Wald und Flur schnaufte. Über den vorbeiziehenden Äckern hing Nebel, noch kaum ein Grün kündete vom anbrechenden Frühling, nur die Sonne leuchtete immer wieder durch den Nebelteppich.
Helene erschien es, als seien sie bereits seit Wochen unterwegs. Sie öffnete das Proviantpäckchen von Frau Professor und bot Martha etwas an. Sie verzehrten die Brote mit der sogenannten Brühwurst, die nach Blutwurst schmeckte und auch die feine Konsistenz gestockten Blutes hatte, sie schlangen die Brote mit dem rotschwarzen Brei herunter, als hätten sie schon Jahre nichts mehr zu essen bekommen und sei Blutwurst eine wohlschmeckende Speise. Dazu tranken sie den Tee, den sie sich in einer korbummantelten Flasche mitgenommen hatten. Später fühlten sie sich schlapp, noch ehe der Zug ein nächstes Mal hielt, fielen ihnen die Augen zu.
Als sie wieder aufwachten, standen die Reisenden bereits an den Fenstern und auf dem Gang. Die Einfahrt in die Stadt und bald darauf in den Anhalter Bahnhof entlockte ihnen leise Ausrufe des Staunens. Wer konnte sich Berlin vorstellen, seine Größe, die vielen Passanten, Fahrräder, Droschken und Automobile? Glaubten sich Martha und Helene nach dem Dresdner Bahnhof bestens gewappnet für die Metropole, hielten sie sich nun gegenseitig an kalten und schwitzigen Händen fest. Durch die geöffneten Fenster drang ohrenbetäubender Lärm aus der Bahnhofshalle ins Innere des Zuges. Die Reisenden drängten aus den Abteilen auf den Gang und strebten zu den Türen, von draußen hörte Helene das Pfeifen und Rufen der Gepäckträger, die schon vom Bahnsteig her laut ihre Dienste feilboten. Eine Panik überfiel die Mädchen, sie fürchteten, nicht rechtzeitig aus dem Zug zu gelangen. Martha stolperte beim Aussteigen und verhedderte sich mit ihrem Mantel, so dass sie von der letzten Stufe auf den Bahnsteig halb rutschte, halb fiel. Sie landete auf allen vieren. Helene musste lachen und schämte sich. Sie ballte ihre Faust, sie biss sich auf den Handschuh. Im nächsten Augenblick fasste sie nach der Stange, nahm die helfende Hand eines älteren Herrn und beeilte sich, aus dem Zug zu steigen. Gemeinsam mit dem älteren Herrn half sie Martha auf. Der Bahnhof war voller Menschen, solchen, die ihre Nächsten vom Zug abholten, aber auch viele Händler und junge Frauen liefen auf und ab, sie boten von der Zeitung über Blumen bis zum Schuheputzen lauter Dinge an, von denen Martha und Helene erst jetzt merkten, dass sie ihnen fehlten. Zur selben Zeit schauten sie aneinander herab und wurden sich ihrer dreckigen Schuhe bewusst. An ihnen haftete noch die Erde vom sächsischen Acker, aus dessen Furchen sie das Automobil des Professors befreit hatten. Ihre Hände waren leer, wo sie doch längst an ein Gastgeschenk für die Tante hätten denken müssen. War nicht kürzlich erst der Physiker Röntgen gestorben? Helene durchforstete ihr Gedächtnis und jagte darin nach welthaltigen Nachrichten, von denen sie in jüngster Zeit etwas gehört hatte. Nur selten nahm Helene die Gelegenheit wahr, im Krankenhaus eine der liegengebliebenen Zeitungen zu lesen. Was wussten sie schon über das Weltgeschehen im Allgemeinen und das Berliner im Besonderen? Ein kleines Sträußchen Märzbecher vielleicht? Waren das echte Tulpen? Noch nie hatte Helene so große und schlanke Tulpen gesehen.
Da Helene keinen der flüchtigen Gedanken erhaschen und festhalten konnte – in die Notenpresse hätten sie beizeiten einsteigen sollen, dachte sie, und: welcher Unsinn, und: wer
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