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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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schon angebrochen, bat der chirurgische Professor die junge Schwester Helene in sein Arztzimmer. Er eröffnete ihr, er wolle im März für eine Woche nach Dresden reisen. Dort sollte er sich mit Kollegen an der Universität treffen und wollte ein gemeinsames Buch über die neuesten Erkenntnisse der Medizin vorbereiten. Er fragte Helene, ob sie ihn begleiten würde, es solle nicht ihr Schaden sein. Er wolle nicht zuviel versprechen, so sagte er der noch fünfzehnjährigen Schwester, aber er könne sie sich durchaus eines Tages als Assistentin vorstellen. Ihre Flinkheit an der Schreibmaschine und ihre Kenntnisse in der Stenographie überzeugten ihn. Sie sei begabt und gescheit, es wäre ihm eine Ehre, sie zu der Professorenrunde mitzunehmen. Gewiss sei sie noch nie mit einem Automobil gefahren? Sein feierlicher Blick ließ Helene verlegen werden, sie spürte, wie sich ihr Hals verengte. Sie brauche sich nicht fürchten, der Professor lächelte nun, sie müsse lediglich das eine oder andere Protokoll erstellen, denn seine alte Sekretärin könne aufgrund des Wassers keine Reisen mehr unternehmen und sei nur noch wenig belastbar. Helene merkte, wie sie errötete. Noch vor kurzer Zeit wäre ihr dieses Angebot als die schönste Herausforderung erschienen. Doch heute hegte sie andere Pläne, von denen freilich der Professor nichts wissen konnte.
    Wir werden im März die Stadt verlassen, alle beide, Martha und ich, platzte Helene heraus.
    Und da der Herr Professor sie schweigend ansah, ganz so, als verstehe er den Sinn ihrer Worte nicht, suchte sie nach mehr Worten.
    Wir wollen nach Berlin, dort lebt eine Tante, die uns Logis angeboten hat.
    Der Professor stand nun auf und beugte sich mit dem Monokel vor dem großen Pharus-Plan, der an seiner Wand hing, nach vorn. Berlin? Es wirkte, als kenne er diese Stadt nicht und müsse sie mühsam auf der Landkarte suchen.
    Helene nickte, die Fahrkarten von Dresden nach Berlin habe die Tante geschickt, nur das Geld für die Bahnfahrt von Bautzen nach Dresden fehle ihnen. Sollte der Herr Professor die Freundlichkeit besitzen, sie, nun ja, mit dem Automobil bis Dresden mitnehmen zu können, wolle sie ihm gern während seiner Professorenrunde die Protokolle schreiben und erst anschließend die Weiterreise mit dem Zug nach Berlin antreten. Dürfte ich erfahren, wann Ihre Professorenrunde zusammenkommen wird?
    Der Professor Chirurg konnte sich nicht recht mit Helene freuen. Er antwortete auf ihre Frage nach dem genauen Zeitpunkt nicht, vielmehr warnte er sie jetzt vor unüberlegten Taten. Und als Helene ihm versicherte, dass sie keineswegs un überlegt seien, im Gegenteil, Martha und sie bereits seit geraumer Zeit an nichts anderes mehr dächten, wurde er unwirsch.
    Die jungen Damen sollten sich nicht überschätzen, mahnte er. Sie seien doch Töchter einer protestantischen Bürgersfamilie, ihr Vater sei ein angesehener Bautzener Bürger gewesen. Die arme Mutter wäre, soweit er wisse, einsam und pflegebedürftig? Was denn in sie gefahren sei, dem Schoß ihrer Herkunft so unverantwortlich den Rücken zu kehren?
    Helene wippte mit den Fersen auf und ab. Sie erinnerte den Professor daran, dass auch Schwester Leontine in Berlin lebe und dort vor allem dank seiner Empfehlungen Medizin studiere. Doch das hätte sie wohl nicht sagen dürfen. Jetzt wurde der Professor zornig. Er schrie: Dank meiner Empfehlungen? Ein undankbares Pack seid ihr, kennt keinen Anstand! Von Dankbarkeit ganz zu schweigen. Es sei ja wohl mehr als offensichtlich, dass diese Heirat von Leontine keine Liebesheirat gewesen sei. Er habe genau gehört, wie sie zu einer anderen Schwester gesagt habe, diese Heirat sei eine kluge Sache. Keine gute Sache, nein, eine kluge Sache! Das müsse man sich mal vorstellen, sich das auf der Zunge zergehen lassen. Wollte sie ihn, ihren Professor, lächerlich machen, eifersüchtig gar? Vielleicht sei der kleinen Leontine ihre Verehrung zu ihm etwas zu Kopfe gestiegen! Eine kluge Sache? Klüger wäre es gewiss, Leontine wäre an seiner Seite geblieben. Welch vergebliche Mühe, Frauen das Studieren zu gestatten! In einem Beruf, der Ausdauer, Kraft und Konzentration, ja das Beugen des Menschen in geistige und körperliche Zwänge bedeute, da hätten Frauen nichts verloren. Sie würden immer in zweiter Reihe stehen, einfach, weil in seiner Zunft nur die Besten forschen und praktizieren könnten. Der Professor geriet außer Atem. Schärfe des Geistes, darauf kommt es an. Er keuchte nur mehr. Warum

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