Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
sehr ich Dich vermisse. Das Studium fordert nur selten ein Lernen bis in die späte Nacht. In der Pathologie halte ich schon den jüngeren Studenten Vorträge. Aber die Wochenenden gehören mir. Gestern waren wir tanzen. Antonie brachte ihre Freundin Hedwig mit. Ich führte ihnen ungeniert meine neue Garderobe vor – die habe ich Lorenz entwendet. Meine Freundinnen jubelten, aber ich trage seine Hose nur im Haus. Zum Ausgehen habe ich mir ein neues Kleid genäht. Auch Antonie trug ein bezauberndes Kleid, ein cremefarbenes Teekleid, für das wir sie bewunderten und lobten. Knielang! Ohne Taille! Sie tanzte darin einfach wunderbar, und genoss es, uns um den Verstand zu bringen. Was gibt es Aufregenderes als die Ahnung einer Taille und einer Hüfte, wenn der ganze Schnitt des Kleides behauptet, da wäre nichts!? An ihrem Ausschnitt blühte eine Pfingstrose aus Seide. Wir rissen uns darum, mit ihr zu tanzen. Meine schöne, große Freundin, ich musste immerzu an Dich denken. Weißt Du noch, wie wir die halbe Nacht auf unserem Dachboden getanzt haben? Du süßes, zartes Mäd chen, wie oft bin ich in Gedanken bei Dir. Wie zerreißt es mir das Herz, dass ich auch dieses Weihnachten nicht werde kommen können. Lorenz will davon nichts wissen. Er meint, es wäre eine unnötige Ausgabe, schließlich ginge es meinem Vater doch in Schwester Mimis Familie sehr gut und vermisse mich niemand daheim. Lorenz achtet immer sehr darauf, recht zu haben. Er sagt nichts, das auch nur entfernt zweifelhaft wäre. Ich sage Dir, er hätte Jurist werden sollen. Die Gerichte hätten ihre wahre Freude an ihm. Nur im zivilen Zusammenleben behagt sein rechtschaffener Blick aus den echsenhaft zusammengekniffenen Augen in die Welt wenig. Du kannst Dir denken, wie sehr mich seine Behauptungen reizen. Immerzu könnte ich ihm widersprechen. Doch dann sind mir seine Worte unversehens gleichgültig und ich verlasse häufiger das Zimmer und noch lieber das Haus, ohne ihm zu antworten. Er liebt das letzte Wort und bleibt damit immer öfter allein. Ob ihn das zufriedenstellt? Zum Glück sehen wir uns nur selten. Er schläft in der Bibliothek. Jeden Morgen behaupte ich, man höre sein Schnarchen durch das ganze Haus. Wenn es das nur wäre. Dir kann ich die Wahrheit ja sagen: Er schnarcht so selten wie Du und ich. Aber mir ist es lieber, wenn er am anderen Ende der Wohnung schläft und wir uns möglichst wenig begegnen. Heute Abend gehe ich mit Antonie ins Theater. Vorn an der Hardenbergstraße hat das Terra-Kino geschlossen und an seiner Stelle im Oktober ein Theater eröffnet. Der Ruf von Miss Sara Sampson schallt schon durch die ganze Stadt. Lucie Höflich als Marwood muss einfach wunderbar sein. Aber was erzähle ich Dir, mein Herzblatt, Du hast sie ja noch nie gesehen. Was gäbe ich darum, mit Dir heute Abend dorthin zu gehen. Nicht eifersüchtig sein, Du, mein süßer Honigmund. Antonie wird im April heiraten und sie sagt, sie wäre schon ganz verliebt. Einmal habe ich ihren Bräutigam von Ferne gesehen, er wirkte nicht gerade fein, ein grober, breitbeiniger Kerl war das! Das ganze Gegenteil von der zierlichen Antonie. Wie ist es mit Helenes Prüfungen gegangen? Grüß mir die Kleine, sei umarmt und geküsst, Dein Leo.
Es fehlte das E für Deine, und zumindest ein langer Tintenschwung für den Rest des Namens, aber es war zweifellos Leontines Schrift. Helene hatte sich nicht anmerken lassen, dass sie den Brief von Leontine an Martha gelesen hatte. Doch als sie nun, Tage später, Gesicht an Gesicht über dem Brief von Tante Fanny saßen und Martha weinte und im nächsten Augenblick aus Freude über die Einladung lachte, war Helene sicher, dass Martha nichts lieber tun wollte, als sofort einen Koffer packen und für immer nach Berlin reisen. Mit einer Bahnfahrt erster Klasse, von Dresden nach Berlin. Was zählte da schon, dass Bautzen durchaus einen großen Bahnhof hatte, einen, von dem Helene für ihren Professor immer wieder seine Kollegen, Ärzte und Professoren aus ganz Deutschland abholte, einen Bahnhof, der sich keineswegs provinziell nennen ließ. Auch wurden von hier aus die in der Bautzener Waggonfabrik gefertigten Wagen um die halbe Welt geschickt, gewiss auch nach Berlin. Es war Tante Fanny nicht vorzuwerfen, dass sie Bautzen für ein Dorf hielt, zeigte sie doch eine ungeahnte Großzügigkeit mit den Fahrkarten erster Klasse. Wo weder Martha noch Helene jemals mit einem Zug gefahren waren!
An einem Nachmittag im Januar, die Dunkelheit war
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