Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
seinen Tod zu glauben. Helene dachte an ihren Vater, aber sie mochte nicht von ihm erzählen.
Er selber habe zum Glück seiner Mutter nicht in den Krieg gemusst. Seine Schwester schließe ihr Physikstudium in diesem Jahr ab, sie sei die einzige Frau an ihrer Fakultät. Im nächsten Jahr wolle sie heiraten. Kein Zweifel, Carl war stolz auf seine Schwester. Er sei der Jüngste, für ihn sei noch Zeit, das sage seine Mutter. Carl schnalzte entschuldigend mit der Zunge, obwohl seine Augen blitzten und das Bedauern alles andere als ernst erscheinen ließen. Ein Spatz setzte sich zu ihnen auf den Tisch, er hüpfte vor und zurück und pickte die Krumen, die er von Vorgängern auf dem Tisch fand.
Der Ausblick in Carls friedliche Welt am Wannsee erweckte in Helene eine unbestimmte Beklommenheit. Was hatte sie dem entgegenzusetzen, was dem hinzuzufügen? In ihrer Himbeerbrause schwamm eine Wespe, sie rang um ihr Leben.
Carl bemerkte wohl, wie Helene ihm gegenüber am Tisch verstummt war. Er sagte zu ihr: Ihre Augen sind blauer als der Himmel. Und als er ihr Lächeln entdeckte, das wie in den Zwingen eines Schraubstocks klemmte, dachte er vielleicht, sie schämt sich doch, sie hat ihren Gott nicht vergessen. Kein Wunder, wenn ich nach ihrer Hand greife. Wohl, um sie aus der Schwere zu erobern, sagte er: Meine Liebe, hat Ihre Welt nun einen ungeheuren Riss?
Helene sah den Schalk in seinen Augen, sie entdeckte etwas an ihm wieder, so als kennte sie ihn nun schon ein wenig – und allein das tröstete sie. Jetzt konnte er nicht aufhören, in seinem Erinnerungsschatz zu wühlen: Um es nicht allein an Lenz festzumachen, möchte ich Ihnen raten, lassen Sie nur die abstrakten Worte in Ihrem Mund zerfallen wie modrige Pilze. Selbst Hofmannsthal hat sich von seiner Langeweile erholt. Und ist es etwas anderes als Langeweile, wenn sich das Nichts vor uns ausdehnt und uns mit Unbehagen füllt?
Da war es wieder, das Unbehagen. Helene empfand seine Worte als zudringlich, etwas drohte zu missglücken, die Wespe in ihrer Himbeerbrause rutschte an der Wand des Glases ab, es war Helene, als müsse sie Kopfschmerzen bekommen. Am Nebentisch wurde laut gelacht und Helene hatte vergessen, Carl zu antworten.
Ich möchte mit Ihnen Boot fahren. Sie sollen im Boot liegen und das Wasser soll Sie schaukeln und Sie müssen in den Himmel schauen, versprechen Sie mir das? Carl winkte dem Kellner, er wollte zahlen.
Vor dem Lokal stand ein offener Mercedeswagen, um ihn herum drängten sich die Leute, sie staunten, sie streichelten die Karosserie wie ein Pferd, klopfend. Helene war froh, dass Carl und sie endlich aufstanden und die Wespe sich selbst überließen.
Carl fasste sie jetzt an der Hand. Seine Hand war unerwartet schmal und fest. Es ging sich leicht an seiner Hand. Kein bleierner Schatten mehr, nichts lastete grabesschwer, die Welt war noch längst nicht an ihrem Ende. Ein Knattern am Himmel ließ sie stehen bleiben. Helene legte ihren Kopf in den Nacken.
Darf ich Ihnen auch etwas anvertrauen, Helene?
Nur zu. Helene hielt sich die Hand über die Augen, die Sonne blendete. Sie haben eine Schwäche für Flugzeuge, ist es das?
Carl trat einen Schritt auf sie zu. Junkers F 13. Sie spürte die Luft seiner Worte an ihrem Hals.
Ohne die Hand von der Stirn zu nehmen, senkte Helene ihren Kopf, mit ihrer Hand berührte sie fast Carls Augenbrauen.
Carl setzte den Schritt wieder rückwärts. So nah an Ihnen kann ich nicht sprechen. Nein, meine Schwäche für Flugzeuge wollte ich Ihnen nicht anvertrauen. Carl hielt inne. Ihr Mund ist schön. Und mir fällt kein Zitat ein. Warum auch die Worte eines anderen nehmen? Ich bin es, der Sie gerne küssen würde.
Vielleicht einmal.
Im nächsten Jahr? Wussten Sie, dass die Junkerswerke einen Flug über den Atlantik planen.
Schon oft gescheitert, Helene gab sich weltläufig.
Von Europa nach Amerika. Aber so lange kann ich nicht auf Ihren Kuss warten.
Helene ging voran, sie war froh, dass Carl ihr Lächeln nicht sah. Sie gingen lange schweigend. Jeder war für sich und wusste den anderen nah. Helene wunderte sich jetzt über ihren Anflug von Fremdheit im Lokal und hoffte, dass Carl ihn nicht bemerkt hatte. Sie fühlte sich der Fremdheit fern. Der Bootsverleiher saß auf einem Klappstuhl und las die Abendzeitung, die ihm vielleicht einer seiner Gäste gebracht hatte. Er bedauerte, aber alle Boote waren verliehen, die ersten, die jetzt zurückkamen, wollte er dabehalten. Nach achte kommt mir keiner mehr aufs
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