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Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)

Titel: Die Mittagsfrau: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Franck
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ihr heißes Wasser. Die Schüssel stellte er vor das Bett und sagte ihr, sie möge sich auf sein Bett setzen. Er legte seine Decke um sie und rieb ihre Füße, damit sie ihre blaue Färbung an den Zehen verloren. Helene biss die Zähne aufeinander.
    Während Carl geschäftig seine Bücher von einem Stapel zum nächsten legte, goss er ihr zweimal heißes Wasser auf. Erst dann war es gut, und er ging hinaus, um die Schüssel wegzubringen und sich einen Pyjama anzuziehen, den seine Mutter ihm zu Weihnachten von ihrer Reise aus Paris mitgebracht hatte. Helene lag schon unter der Decke, sie lag kerzengerade auf dem Rücken, es sah aus, als schlafe sie. Er schlug die Decke zurück und legte sich neben sie.
    Wundere dich nicht, wenn du mein Herz hörst, sagte er mit seiner nicht mehr ganz so trockenen Stimme und löschte die Lampe.
    Wolltest du mir nicht vorlesen?
    Er stützte sich auf, schaltete das Licht wieder an und sah, dass sie die Augen jetzt geöffnet hatte.
    Gut, ich lese dir vor. Er nahm die Ethik von Spinoza, die auf dem Nachttisch lag, und blätterte.
    In der griechischen Antike entsprachen Zügellosigkeit und Freiheit, die vollkommene Ausschweifung in Lust und Verlangen der Glückseligkeit. Doch dann kamen die Stoiker und haben Gott zugearbeitet, Pflicht und Tugend, alles Geistige sollte sich über die niederen Gelüste erheben, das Fleisch wurde verbannt in seine Zeit. Ein einziges Jammertal, das Mittelalter. Für Kant, den alten Moralisten, gab es nur noch Pflicht – Ödnis, wohin man auch blickt.
    Was redest du so abfällig. Du tust so, als läge das Glück allein in der körperlichen Vereinigung. Helene stützte ihren Kopf auf, sie vermutete, dass Carl zwar Kants Ödnis verdammte, selbst aber keinen noch so winzigen Gedanken mehr an den Kuss verschwendete, den sie ihm seit Monaten schuldete.
    Carl übersprang ihren Einwurf. Ganz zu schweigen von Schopenhauer, der es als angeborenen Irrtum ansah, gewissermaßen eine Fehlbildung des Menschen, seine Vorstellung, er wäre da, um glücklich zu sein. Dabei kommt es nicht auf das Glück an, Helene, aber das weißt du, nicht? Gähne nur. Carl stieß ihr sacht mit dem Lesezeichen an die Stirn.
    Helene nahm ihm das Lesezeichen aus der Hand. Wenn ich jedes Buch mit dir zusammen lesen könnte, wär ich glücklich, glaubst du das? Helene lächelte. Am liebsten mit deinen Augen, mit deiner Stimme, mit deiner Gelenkigkeit.
    Gelenkigkeit, wovon redest du? Carl lachte.
    Ich hör dir gern zu, du springst dabei manchmal zum Fens ter raus und manchmal kriechst du unter einen Tisch.
    Und du kletterst auf Bäume und springst, wie mir scheint, aus Prinzip auf den Tisch, wenn ich mich darunter verkrochen habe.
    Tue ich das? Helene überlegte, was er meinte. Glaubte er sich von ihr geärgert, genoss er nicht ihrer beider Ausmessung, die Spannweite, die sich zwischen ihm dort und ihr hier ergab?
    Und überhaupt, jetzt liegen wir unter einer Decke, ein Engel und ich, wie konnte das passieren? Carl blickte sie jetzt so herausfordernd an, sein Mund näherte sich um einen ganzen Millimeter, dass Helene den Mut verlor und ihre Angst vor dem Kuss plötzlich größer war als die Lust. Also, es kommt auf das Glück nicht an, nein? Helene tippte auf Carls Buch. Keine Wollust und ausschweifende Zügellosigkeit?
    Carl räusperte sich. Was willst du, Helene, willst du denken lernen?
    Die Ellenbogen vor dem Buch, die Arme aufgestützt zum Kinn, lachte Carl jetzt in die Faust, die seine Hände vor seinem Mund bildeten. Schopenhauer kennt Trost, der geistige Reichtum überwindet selbst Schmerz und Langeweile – demnach war unser alter Lenz offenbar nicht klug genug.
    Helene legte ihren Kopf auf das Kissen zurück, sie hielt ihm ihre Kehle hin, bewusst, sie drehte sich auf die Seite und beobachtete seinen Mund, während er sprach. Seine etwas aufgeworfenen Lippen bewegten sich viel zu schnell für sie. Er bemerkte ihren Blick und sein Augenlid flatterte wieder, als erwarte es, von ihr berührt zu werden, als wollte es nichts lieber als das. Plötzlich senkte er seine Augen, die Finger auf den Seiten zitterten ihm, Helene sah es genau, aber er las tapfer einen Satz vor, den er sich auf die erste Seite im Buch notiert hatte: Glückseligkeit ist nicht der Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst. Wir freuen uns ihrer nicht, weil wir die Gelüste hemmen, sondern weil wir uns ihrer erfreuen, darum können wir die Gelüste hemmen.
    Das klingt wie ein guter Rat für angehende Priester.
    Du irrst,

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