Die Mittagsfrau: Roman (German Edition)
sie studieren wollte, und ließ es bleiben. Schließlich war ihr Geburtstag seit einigen Stunden vorüber und die Morgensonne, die erste Sommersonne nach der Sonnenwende, die ihnen jetzt warm ins Gesicht schien, war etwas wichtiger, solange sie diesen Pelz an ihrer Wange spürte.
So jung? Carl sah sie schätzend an. Helenes Wangen glühten, ihre Füße waren kalt geworden, der eine Schuh lag in ihrem Schoß, am Rücken klebte das vom Tanzen durchnässte Kleid und machte sie frieren, doch ihre Wangen glühten und sie lächelte und erwiderte Carls Blick.
Er beugte sich zu ihr, Helene glaubte, er wolle sie küssen, aber er flüsterte ihr tonlos in Ohr: Wenn ich mich traute, würde ich Sie gern küssen.
Helene zog den durchsichtigen Schal fester um ihre Schultern, ihr Blick fiel durch das Blattwerk der Platanen auf die vorüberziehenden Geschäfte. Sie sprang auf, hier mussten sie raus.
Wir sind doch erst eine Station gefahren. Wertheimer lief hinter ihr her, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße.
Helene humpelte, ihr rechtes Bein war nun viel kürzer als das linke.
Ich würde Sie tragen, Helene, aber das gefiele Ihnen vielleicht nicht.
Was mir nicht alles gefiele, Helene verdrehte die Augen, die Nacht hatte sie aufgekratzt und die Helligkeit des Morgens ließ sie sich mutiger fühlen. Vergnügt legte sie ihre Arme um Carl Wertheimer. Er war erstaunt und zögerte kurz. Kaum umfasste er sie, um sie hochzuheben, gab sie ihm einen flüchtigen Kuss, seine Wange war rau, und schubste ihn freundlich von sich.
Die Sonne scheint ja schon. Helene blieb stehen, sie stützte sich auf Carl Wertheimers Schulter und zog ihren zweiten Schuh aus. Keine Sorge, die Steine sind warm.
Während sie einige Schritte vor ihm herlief und er sie einholen wollte, begann sie zu rennen. Sie sagte sich, dass er sie zum Abschied küssen werde. Plötzlich erschien es Helene so, als durchschaue sie die Menschen und wisse genau, welcher Schritt zu welchem Ziel führte. Sie konnte die Menschen lenken, jeden einzelnen, wie Marionetten an den Fäden ihrer Wege ziehen, ganz besonders galt das für Carl Wertheimer, den sie hinter sich wusste, dessen Schritte immer näher kamen, dessen Hand sie im nächsten Augenblick an ihrer Schulter spürte. Vor ihrem Haus blieb sie stehen und drehte sich zu Carl Wertheimer um, er nahm sie bei der Hand, zog sie in den Hauseingang und legte seine Hand an ihre Wange.
So weich, sagte er. Helene mochte seine Hand, sie meinte, dass sie den jungen Freund ermutigen könnte, sie legte ihre Hand auf seine, presste sie an ihr Gesicht und küsste den spröden Rücken seiner Hand. Vorsichtig suchte sie seinen Blick. Carls Augenlid zuckte, nur das eine, es flatterte wie ein junger ängstlicher Vogel, vielleicht hatte er noch nie ein Mädchen geküsst, er zog sie an sich. Sie mochte seinen Mund an ihrem Haar. Helene wusste nicht, wohin mit ihren Händen, sein Mantel schien ihr abweisend und zu grob. Eine Hand legte sie an seine Schläfe, seinen Wangenknochen, die Höhle seiner Augen, mit ihrem Finger suchte sie sein Augenlid, das flatternde. Schützend legte sie ihre Finger auf sein Auge, es sollte sich beruhigen. Helene spürte Seitenstiche, sie atmete tief, sie atmete gleichmäßig, so gleichmäßig wie nur möglich. In Carl Wertheimers Umarmung war sie nicht klein noch groß, seine Hände an ihrem nackten Hals wärmten sie und riefen Gänsehaut an ihren nackten Armen hervor. Helene musste sich schütteln. Die Berührung war ihr noch unbekannt, das Begehren umso vertrauter. Eine Amsel flötete laut, eine zweite übertönte sie erst trillernd, dann flötend im Dreiklang von niedrigerer Warte und die beiden Amseln gerieten in Wettstreit. Helene prustete aus Anspannung; er mochte es als Lachen verstehen. Dann spürte sie seinen ernsten Blick auf sich ruhen und ihr Lachen wurde leise. Sie schämte sich, sie fürchtete, dass er ihre noch eben vermutete Allmacht bemerkte, eine Hülse, deren Keim zerfallen war, von der nichts mehr blieb als der Anschein von Hochmut oder gar Eitelkeit, die er gering bewerten musste. Sie fragte sich, was er wollte. Überhaupt und mit ihr. Ihr Herz pochte am Hals. Sie mussten Abschied nehmen.
Stolz sagte sie ihm, dass sie seit neustem einen Telefonapparat besäßen.
Carl Wertheimer fragte nicht nach der Nummer, es war, als habe er sie nicht gehört, er sah ihr nach und winkte, sie winkte zurück, ihre Hände waren warm.
Schon als sie an Fannys prächtiger Tür den schweren Messingring hob,
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