Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
würde, wäre das keine gute Werbung für mich.« Sie mustert Muttels graues Kostüm.
Lotte spart sich eine Antwort auf Muttels Frage. »Wie geht es euch, Traudel?«
» Willst du das wirklich wissen?«
Lotte nickt.
»Darüber redet sie nicht gerne«, sagt Muttel. »Aber inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass mein Sohn ein Versager ist.«
» Mutter!«, braust Traudel auf. »Rudi ist kein Versager.«
» Nein?«, säuselt die alte Frau. »Er buckelt als Lagerarbeiter und du sitzt in einem dieser neuen Aldi-Läden an der Kasse. Seht euch Gina und Otto an. Die haben es geschafft und scheffeln das Geld wie Hamster vor dem Winterschlaf.«
Lotte serviert den zweiten Apfelkorn und versucht, ruhig zu bleiben. Dennoch entfährt ihr: »Und Frank ist auch ein Versager, willst du das sagen?«
» Wie kommst du darauf?«, fragt Muttel.
» Auch er arbeitet hart für unseren Lebensunterhalt. Und das macht ihn kaputt. Trotzdem geht es uns gut. Warum ist jemand in deinen Augen ein schlechterer Mensch, nur weil er bei Aldi arbeitet?«
Die alte Frau Jäckel lächelt. »Typisch Lotte. Fühlt sich andauernd angesprochen.«
Frank kommt zu ihnen. Es riecht nach Gebratenem und glühender Holzkohle, in die Fett tropft. »Na, unterhaltet ihr euch schön?«
» Ja, wunderschön«, zischt Lotte. »Ist alles Frieden, Freude, Eierkuchen.«
Frank runzelt die Brauen. »Wir brauchen Teller. Und den Salat, den du vorbereitet hast.« Er beugt sich runter zu Lotte und atmet an ihrem Hals, während er flüstert: »Das war eine tolle Überraschung, Lottchen. Ich liebe dich.«
Nun wird er ganz weich, denn der Alkohol macht ihn sentimental und sie wird heute noch öfters hören, wie sehr er sie liebt.
»Ich dachte, heute kommt auch Ottilie?«, fragt Muttel.
» Sie verspätet sich«, erklärt Lotte.
» Erstaunt mich nicht«, sagt Muttel. »Wir sind ja auch nur extra aus Berlin gekommen. Da kann man sich ruhig verspäten. Typisch für die jungen Leute von heute. Haben keine Disziplin. Nur noch Negermusik, lange Haare, Nietenhosen, Drogen und Sex im Kopf. Kürzlich fuhr ich mit der Straßenbahn. Es war unglaublich voll, und keiner von diesen Gammlern hat mir einen Platz angeboten. Sie haben mich angestarrt, als sei ich ein Relikt. So etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben.«
» Immer noch besser, als wenn die Russen kommen – in deiner Zeit«, schnappt Lotte, die die Nase voll hat und sich erhebt, um den Salat und das Geschirr zu holen.
Gina folgt ihr. »Ich komme mit.«
Frank streichelt Muttels Schulter und sie sieht dankbar zu ihm auf. Guter Junge, sagt ihr Blick. »Reg dich nicht auf, Muttel. Ottilie ... na ja, du weißt schon ... die Sache mit Jasmina ist nicht einfach und da kann jederzeit etwas Unerwartetes dazwischen kommen.«
Muttel nickt beruhigt.
Lotte seufzt innerlich. Typisch Frank. Er ist der einzige Mensch, der weiß, wie ihre Mutter tickt und der mit ihr umgehen kann. Was auch immer die beiden verbindet, es befindet sich in einem Land, das Lotte bis heute fremd geblieben ist.
Sie und Gina gehen ins Haus und in der Küche lehnt sich die attraktive Frau an die Spüle. »Es wird immer schlimmer mit deiner Mutter. Je älter sie wird, desto härter ist sie. Man kann ihr kaum noch etwas recht machen. Du hättest sie mal im Zug erleben sollen. Sie hat den Schaffner niedergemacht und einen Aufstand angezettelt, bis man ihr und uns ein gemeinsames Abteil gegeben hat. Sie meint, ihr Alter berechtige sie dazu.«
Lotte stapelt Teller aufeinander.
Gina sagt: »Und um deine Frage zu beantworten, wie es uns geht ... ich werde mich von Otto trennen.«
Um Haaresbreite wären Lotte die Teller aus den Finger gerutscht.
» Ich kann ihn kaum noch ertragen. Otto spielt allen vor, er sei ein hohes Tier bei seiner Versicherungsgesellschaft, in Wirklichkeit hockt er arbeitslos zuhause und wir leben von meinem Geld.«
» Arbeitslos?«
» Man hat ihn gefeuert. Er hat irgendein krummes Ding gedreht und man ist ihm auf die Schliche gekommen. Beweisen kann ihm niemand was, aber sein Ruf ist hin. Aber das ist nicht maßgeblich. Wäre er ein guter Mann, würde ich zu ihm halten, doch da gibt es noch etwas anderes.« Bevor Lotte etwas sagen kann, fährt Gina fort: »Er hat eine Geliebte. Dass er hin und wieder in den Puff geht, weiß ich schon lange, und es stört mich nicht, aber nun hat er irgendeinem jungen Ding eine Wohnung gekauft, was ich vor sechs Monaten erfuhr. Durch Zufall. Auch damit könnte ich irgendwie leben, aber dafür
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