Die Mitte des Weges: Roman (German Edition)
Alter im zähen Griff hat und der daran verdorrt. Ahnt er, wie sehr es an ihm zerrt und ihn verändert?
Und Muttel, Oma Käthe, die von Jahr zu Jahr härter, trockener wird, die nach wie vor ihr Geheimnis mit Lotte teilt, die wirkt, als könne sie nicht lieben? Ahnt sie, dass sie in weniger als einer halben Stunde tot sein wird?
Niemand ahnt das.
Und doch ge schieht es. Sie fällt vom Stuhl und tastet mit einer Hand verzweifelt in die Rosen.
Eine Flasche fällt zu Boden. Jemand schreit.
Muttel röchelt, bäumt sich auf und ist tot.
Denn die Gegenwart schert sich nicht um die Vergangenheit, Sie hat ihr eigenes Gesicht und schaut nur geradeaus.
6
Thomas ist ein Wille, und ein Wille siegt.
D och letztlich fühlt er sich wie ein Verlierer.
Warum sonst hatte er für die nächsten zwei Wochen Strafdienst, während seine Kameraden nachhause fuhren, um es sich gut gehen zu lassen. Vermutlich werden seine Eltern im Garten grillen und Ottilie und Jasmina werden da sein. Thomas hat ein bisschen Heimweh.
Hätte er sich gegen Trecker stellen sollen? Nein, Herr Unteroffizier, ich angele nicht, ich will viel lieber Wache laufen! Weil ich das so schön finde.
Lächerlich!
Dieser ganze Bundeswehrscheiß ist sowieso eine Ungerechtigkeit, die jeder Beschreibung spottet. Nur fünf Minuten Fußweg vom Elternhaus entfernt, in Bergborn, gibt es eine Kaserne. Warum hat man ausgerechnet ihn fünfhundert Kilometer weit in den Norden geschickt, und dass, obwohl er kein Auto besitzt, aber dafür eine Freundin, die er kaum sieht und die sich vermutlich mit einem Anderen vergnügt, weil sie die Nase davon voll hat, auf ihren Soldaten zu warten. (Ist ja nicht so, als kenne Thomas das nicht.) Das ist so was von unlogisch und absurd. Martin, der mit dem Grundig, war in der Kaserne in Bergborn. Er ging jeden Mittag nachhause, schlief meistens im eigenen Bett und hatte eine schöne Zeit, denn er war bei den Versorgern, die im Sommer LKWs mit dem Wasserschlauch abspritzten, und anschließend sich selbst. Der reinste Urlaub war das für den jetzt 22-jährigen, der kurz vor der Vermählung steht und diesen Mist schon längst hinter sich hat.
So geht und ging es vielen Kameraden. Die Freundin läuft weg, der Job verschwindet im Zukunftsnebel, die Freunde entfremden sich einem, und nicht wenige Soldaten bringen sich schließlich um. Aus und vorbei. Nicht mehr zum Aushalten. Das beginnt damit, am Wochenende nicht in die Kaserne zurückzukehren. Man wird gesucht und es gibt eine Anzeige wegen Fahnenflucht. Irgendwann setzt man den Soldaten fest, und sperrt ihn ein. Was dann wird, steht in den Sternen und manchmal hilft nur die Flucht in die ewige Dunkelheit. Ist sowieso alles kaputt. Freundschaften, Beziehungen und die Zukunft. Nur wenig bleibt beständig in achtzehn Monaten. Wenn Thomas sich richtig erinnert, hatte sich vor ein paar Wochen ein Soldat in einer Nachbarkaserne auf die Stufen des Hauptgebäudes gesetzt, und sich mit einer geladenen Pistole die Birne weggeschossen. Viele hängen sich auf. Es gibt genug Haken, Stricke, Seile oder Ketten in jedem Gebäude. Doch darüber spricht niemand. Vielleicht wird man das in Zukunft tun, aber vermutlich nicht. Das gilt als Tabu, obwohl es ein offenes Geheimnis ist. Bundeswehr heißt Abschied. Viel zu oft vom Leben.
Apropos Selbstmord.
Damals hat sich Ulrike Meinhoff in Stammheim umgebracht, jedenfalls wollte man dem deutschen Volk einen Suizid weismachen. Später die anderen drei. Lächerlich! Warum also das Geschrei von wegen RAF, die ausgerechnet in einem Bootslager Waffen klauen könnten? Die sind alle so was von hyster isch, dass es nicht besser geht, pures Scheuklappendenken.
Lars reißt die Tür auf und poltert herein. Er wirft eine Flasche billigen Whiskey auf sein Bett und lässt sich auf einen wackeligen Holzstuhl fallen, dass es kracht. Er donnert die Springerstiefel auf die Tischplatte, rülpst und reißt sich das Hemd vom Leib, denn wie üblich brütet über dem die Hitze reflektierenden Exerzierplatz die Sonne. Sofort stinkt es bestialisch nach Schweiß. Kein Grund, die Nase zu rümpfen, denn man gewöhnt sich dran. In jeder Stube stinkt es nach Furz, Schweiß und Schwanz, da kann man sich noch so reinlich halten oder was man dafür hält. Viel Bewegung fördert viel Schweiß und die Nylonstoffe, die man am Leib hat, sind auch nicht unschuldig dran. »Hab die Schnauze voll, Thomas. Ich haue an diesem Wochenende ab auf die Reeperbahn.«
Auch Lars hat Strafdienst.
Thomas
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