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Die Mitternachtsrose

Die Mitternachtsrose

Titel: Die Mitternachtsrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucinda Riley
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werden konnten.
    Während die Hufe des Pferds über die mit rotem Staub bedeckten Straßen klapperten, hielt ich Ausschau nach dem Palast. Wir hatten die Stadt schon fast erreicht, als ich ihn entdeckte. Er war riesig und hatte zwei große Flügel links und rechts von einem gewaltigen Kuppelbau in der Mitte. Wir fuhren durch einen Park mit sattgrünen, gepflegten Rasenflächen. Nach einer Weile hörte ich das Trompeten von Elefanten aus dem pilkhana und sah einen See, der genauso lang war wie der Palast.
    Sogar auf mein ungeschultes Auge wirkte der Palast nicht traditionell indisch. Später erfuhr ich, dass ein englischer Architekt ihn entworfen hatte. Von außen ließen das graue Mauerwerk und das Fehlen des feinen indischen Gitterwerks an den Fenstern das Gebäude verglichen mit dem Mondpalast in Jaipur streng erscheinen.
    Der Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Atmosphäre von indischen Palästen erstaunt mich immer wieder. Auf den Betrachter wirken sie verlassen, weil fast alle Aktivitäten in den zahlreichen schattigen Höfen stattfinden, die die Bewohner vor der sengenden indischen Sonne schützen. Während ich diese Zeilen niederschreibe, wird mir bewusst, dass sich diese Erkenntnis möglicherweise auf die Menschen übertragen lässt. Oft verrät ihr ruhiges, gelassenes Äußeres nichts über ihren lebhaften Geist.
    Auf der gesamten Fahrt vom Parktor zum Palast sah ich keine Menschenseele.
    Als der Fahrer meinen kleinen Koffer herunterhob, hörte ich hinter mir eine Stimme.
    » Überraschung! «
    Indira sprang wie ein Äffchen auf meinen Rücken und schlang ihre schmalen braunen Arme um meinen Hals.
    » Aua! « , rief ich aus, als sich ihr Armband in meinen Haaren verhedderte. Sie ließ mich los und drehte mich zu sich herum.
    » Du bist da! Ich hab dir ja gesagt, dass ich es schaffe! «
    » Ja, ich bin da « , bestätigte ich, müde von der langen Reise. Plötzlich fühlte ich mich nach so vielen Wochen der Trennung von ihr befangen.
    Ich suchte nach Zeichen der Krankheit, die ihre Mutter in ihrem Brief so lebhaft geschildert hatte. Doch Indiras Augen leuchteten, ihre schwarzen Haare glänzten in der Sonne, und ihr drahtiger Körper erschien mir nicht dünner als beim Krönungstreffen.
    » Ich dachte, du bist sterbenskrank « , schalt ich sie. » Seit dem Brief habe ich vor Sorge um dich kaum geschlafen. «
    Sie stemmte die Hände in die Hüften und verdrehte die Augen. » Ich war tatsächlich krank. So krank, dass ich wochenlang nichts essen konnte. Ma hat alle möglichen Ärzte geholt, die rausfinden sollten, was mit mir los ist. Sie waren sich einig, dass ich um etwas trauere. Oder um jemanden. Sobald meine Mutter erlaubt hatte, dass du kommst, hatte ich plötzlich wieder Appetit. Ist das nicht ein Wunder? « Indira hob die Hände zum Himmel. » Und seitdem esse ich wie ein Scheunendrescher. « Plötzlich wurde sie ernst. » Du hast mir so gefehlt, Anni. Ich glaube, ohne dich wär ich gestorben. «
    Ich war überwältigt, dass sie sich für mich so verstellt hatte.
    » Anni, du hast mir nicht geglaubt, stimmt’s? «
    Ich nickte stumm, nahm ihre Hände und hielt sie fest. » Ja, tut mir leid. Aber von jetzt an werde ich nie mehr an dir zweifeln. «
    Meine ersten Wochen mit Indira im Palast von Koch Bihar waren gefüllt mit neuen, aufregenden Erfahrungen. Leben und Alltag dort hätten sich nicht stärker von denen in Jaipur unterscheiden können. Die Frauen meiner früheren zenana hatten gesagt, dass die Maharani von Koch Bihar ihr weibliches Gefolge nicht in geziemender Hindumanier leite. Nicht nur, dass sie sich innerhalb der Palastmauern nicht an die parda hielt, nein, Ayesha war auch mit ihrer Familie zahllose Male übers Meer gereist, was einem Verstoß gegen die strikten Regeln ihrer Kaste gleichkam.
    Außerdem hatten die Damen in Jaipur mir mit ernster Miene erklärt, dass die Maharani ihnen eher westlich als indisch erscheine. Und dass sich in ihrem Palast ständig ausländische Gäste aufhielten, darunter europäische Adlige und amerikanische Schauspieler. Ich hatte genauso ernst genickt. Sie konnten nicht ahnen, dass ihre Schilderungen in mir unbeschreibliche Erregung auslösten.
    Wie ich später erkannte, stimmte fast alles, was sie behaupteten. Die Maharani leitete Palast und Familie tatsächlich auf sehr moderne Weise.
    Jeden Morgen standen Indira und ich in der Morgendämmerung auf und liefen in den Stall, wo zwei Pferde gestriegelt und gesattelt auf uns warteten. Anfangs

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