Die Monster von Templeton
Temple
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Averell Cottage, Templeton
11. Dezember 1861
Liebe Charlotte,
ich habe nachgedacht und beschlossen, dass ich Ihnen helfen werde, auch wenn der Franzose Gegenstand Ihrer Bemühungen ist. Manchmal hört ein Herz einfach nicht auf die Vernunft. Genauso erging es mir mit meinem ersten Ehemann, dem lieben Paul Stokes, und ich
dachte, ich würde sterben, als er damals vom Pferd fiel und sich das Genick brach. So werde ich also alle Hoffnung auf einen Prinzen für Sie fahren lassen – jedenfalls was diesen Ehemann betrifft! Ich scherze, doch immerhin ist der Franzose ein ganzes Stück älter als Sie, meine Liebe, und Sie sollten auf alles gefasst sein.
Denken Sie daran,
il faut souffrir pour être belle.
Ich habe wieder angefangen, Französisch zu lesen, damit ich mit Ihnen üben kann, sobald ich im November die Volltrauer hinter mir habe.
Mehr später,
Ihre Cinnamon Averell Graves
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Mon Cher Monsieur Le Quoi
(schlichter Zettel, fleckenlos)
Bitte lauschen Sie dem Lied eines kleinen Vögelchens, das Ihnen ins Ohr flüstern möchte, dass Sie eine Bewunderin haben – die angesehenste Dame der Stadt. Dieses Vögelchen wünscht ihr Glück und würde ein frohes Lied anstimmen, wenn Sie sie am Sonntag nach der Kirche nach Hause begleiten könnten. Sie sagt, sie legt die Meilen bis zu ihrem Herrenhaus als Buße für ihre Sünden zurück – doch das kleine Vögelchen weiß, dass sie ohne Sünde ist und dass Sie, Monsieur, in der Lage wären, ihre Buße in einen Segen zu verwandeln.
Ein Freund
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Elfter Dezember
Meine liebste, gütigste, schönste Freundin Cinnamon,
vergeben Sie mir, dass ich nur rasch ein paar Zeilen zu Papier bringe. Ach, Monsieur Le Quoi hat mich den ganzen Weg von der Kirche bis nach Blackbird Bay begleitet! Ihre Ratschläge zeigen Wirkung, meine Liebe. Sie sind die wundervollste Freundin, die ich mir vorstellen kann. Ich gebe dieses Schreiben Joseph mit, der demnächst in die Stadt fährt, und dann muss ich auf mein Zimmer gehen und für mich sein, bis das Jubilieren in mir wieder verstummt.
Ihre liebende (!)
Charlotte
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Averell Cottage
19. Dezember
(aufgesetzt, in wilder Handschrift)
Oh, Charlotte,
ich weiß nicht, was ich tun soll – ich stecke in großen Schwierigkeiten – muss Ihnen auf der Stelle schreiben – etwas Schreckliches ist passiert – ich hatte einen Brief für Sie, einen langen, zwanzig Seiten lang, den ich Ihnen am Morgen schicken wollte, alles Ratschläge zum Flirten, doch jetzt ist er nutzlos geworden – ich habe ihn ins Feuer geworfen. Nun sende ich dieses Schreiben an Sie – Sie müssen mir helfen!
Sie werden dies erhalten, sobald ich es fertig geschrieben habe – ich werde auf der Stelle einen der Stalljungen damit losschicken – hoffe, er schafft es durch die Schneeverwehungen. Ich habe heute Nacht kein Augen zugetan, zittere am ganzen Körper. O Charlotte, Sie erinnern sich doch noch an den Schneesturm heute Nacht. An diesen schrecklich heftigen Wind, den Schnee und die brechenden Äste – Marie-Claude ging früh nach Hause, um sich um ihr Vieh zu kümmern. Ich
nahm gerade ein bescheidenes Abendessen zu mir, als es schrecklich laut an meiner Tür klopfte, ein richtiges Poltern. Und noch bevor ich aufstehen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und da stand ein Bär in der Tür, vollkommen mit Schnee bedeckt!
Nein – kein Bär! Das Wesen trat ins Zimmer, ächzte und nahm den seltsamen Hut mitsamt Schal ab, schüttelte sich, und plötzlich blickte ich, unter all dem Schnee, in das Gesicht meiner Schwester Ginger. Ginger! Sie erinnern sich noch – an dieses große und herrische Mädchen namens Ginger, das Sie so sehr zum Weinen gebracht hat, weil es Ihnen verbot, mit ihr und den Jungs Baseball zu spielen, weil Sie ein reiches Mädchen waren, Ginger, die von meinem Vater weglief, als sie vierzehn war. Und da stand sie am Kamin, die grobschlächtige Ginger, und grinste mich an. Sie trug Männerkleidung, sah aus wie ein Mann, und wäre mir ihr Gesicht nicht so vertraut gewesen, hätte ich auch gesagt, es ist einer. Sie hatte sich nicht verändert, war nur etwas massiger geworden. Ginger war wieder nach Templeton zurückgekehrt.
Bevor ich mich aus meiner Erstarrung lösen und aufspringen konnte, um die Tür zu schließen und meine Schwester zu umarmen, bellte sie: «Kommt rein!» Und plötzlich war da eine ganze wilde Schar von Menschen, die hereinstapften, quer über den Dielenboden, den Marie-Claude erst an diesem Morgen geschrubbt hatte,
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