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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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eigentlich waren es nur vier, wie ich später zählte, doch zu diesem Zeitpunkt schien es mir eine ganze Armee zu sein. Alle schüttelten den Schnee ab, zogen die Stiefel und die Jacken aus und drängten sich eilig herein, ein großes Stimmengebrabbel, das sich auf den Kamin zubewegte. Ich hatte aufgehört zu atmen, und als ich wieder Luft holte, wandte sich Ginger mir zu. «Cin!», dröhnte sie. «Ich bin wieder daheim!»
    Mir blieb der Mund offen stehen. «Willkommen», sagte ich, und eine der anderen Personen, die mit Ginger hereingekommen waren, sagte: «Piekfein, deine Schwester, Papa Gin. ’ne Dame, stimmt’s?», und jetzt sah ich, dass es eine Frau war. Dann erkannte ich, dass es allesamt Frauen waren – alle in so bunten Kleidern unter ihrer winterlichen
Umhüllung, dass es mich in den Augen blendete, und da war auch ein starker Geruch, nach Duftwasser und Körpern, der mit dem Dampf aufwallte, den ihre Kleidung dort am Feuer von sich gab. Ginger fuhr die Frau an, die gesprochen hatte, und die Frau zog den Kopf ein, wie ein geschlagener Köter. Ginger sagte: «Ich stelle euch jetzt vor. Cinnamon, das hier sind meine Mädels. Das hier ist Lolo – sie ist Französin und kommt aus New Orleans. Die beiden hier sind Zwillinge aus Indiana, Minerva und Medea. Und diese Letzte hier ist meine Beste – Barbara, aber ihr richtiger Name ist Samuel.» Und dann schüttelten sie mir die Hand mit ihren kalten Pranken – der dicke, träge Rotschopf mit den leuchtend roten Wangen, die beiden mageren, hässlichen Blonden und der schöne Junge, den ich niemals für einen Jungen gehalten hätte, denn er trug Röcke und einen hohen Kragen, der seinen Adamsapfel verbarg. Ich schaute sie alle verblüfft an und wandte mich dann meiner Schwester zu, die mich angrinste.
    «Oh», hauchte ich. «Ginger, was um alles in der Welt machst du in Templeton?»
    «Ist schon lange her», sagte sie. «Ist viel passiert in meinem Leben. Hab ’ne Menge Sachen gemacht, manche, für die ich mich schäme, andere, auf die ich stolz bin. Setz dich», sagte sie, und ich befolgte ihre Anweisung, wenn auch nur unter Schock. In jenem Moment stand ich kurz vor einer Ohnmacht, denn ein ganz seltsames Gefühl hatte sich meiner bemächtigt: als wäre jeder einzelne Zug meiner Eltern abgetrennt, eingekocht, destilliert und dann in die so gegensätzlichen Formen meiner Schwester und mir gepresst worden. Ginger hatte die Größe meines Vaters, auch seine dunkle Haut und die blitzenden Augen – sein starkes Kinn, sein hitziges Temperament, seine Schlauheit – und dazu die stämmige Gestalt meiner Mutter und ihr glattes, kastanienbraunes Haar sowie – vielleicht – ein Aufschimmern ihres Wahnsinns. Ich dagegen besitze die zierliche Größe meiner Mutter, die rosige Haut, ihre Freundlichkeit und Sanftheit, dafür jedoch den schmalen Körperbau meines Vaters, sein kupferfarbenes Haar, seine
flötende Stimme, sein Geschick mit Geld. Meine Schwester und ich – wir sind so verschieden wie sonst nur Menschen, die nicht miteinander verwandt sind.
    Da endlich durchbrach Ginger das Schweigen. «Zuallererst einmal», sagte sie, «willst du den müden Reisenden keine Erfrischungen anbieten?», und ich, aus irgendeinem Grunde beschämt, weil sie schließlich ungebeten gekommen waren und das Ganze im Grunde skandalös war – sie hätten mir überhaupt keinen Besuch abstatten dürfen, ich war schließlich in tiefer Trauer! –, stand auf, schnitt etwas Schinken und Brot und Käse (von dem guten Käse, von Starlin Yeomans Farm) und braute einen starken Kaffee. Die Mädchen in den bunten Kleidern schlangen diese Mahlzeit herunter, als hätten sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Am Schluss zog Ginger meinen Suppenteller zu sich heran, dessen Inhalt längst kalt geworden war, und trank ihn aus, ohne mich zu fragen. Als sie fertig war, lehnte sie sich zurück, tupfte sich die Lippen ab und lächelte – es war ein schreckliches Lächeln, Charlotte.
    «Keine Kinder? Ich hörte, du hättest schon vier Ehemänner gehabt, Cin, und da hast du keine Kinder? Bist du unfruchtbar?»
    «Ich weiß nicht», flüsterte ich. «Und du?»
    «Nee», erwiderte meine Schwester. «Hab früh eins verloren. Und danach konnte ich keine mehr kriegen. Macht die Arbeit vermutlich einfacher.» Da prusteten die Mädels meiner Schwester in ihre Teetassen und wieherten ganz fürchterlich.
    «Was für eine Arbeit denn?», fragte ich, von Angst gepackt. «Warum seid ihr hier?»
    «Warum wir hier sind?

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