Die Monster von Templeton
mitgebracht hatte und der mit Clarissas Sauklaue beschriftet war. Ich konnte es in diesem Moment einfach nicht ertragen, allein zu sein. Während die Nacht vor meinem hohenFenster immer dichter wurde, riss ich das Kuvert auf, zog die fotokopierten Seiten heraus und las alles einmal, dann ein zweites Mal. Vi war immer noch nicht zurück. In jener Nacht las ich die Seiten wieder und wieder, weil ich beim Lesen alles komplett vergessen konnte, Vi, das Nichtklümpchen und Clarissa, selbst das kränkliche braune Licht um mich herum; und es war ein Segen, eine Atempause.
Schatten und Fragmente
Und das sah ich, als ich den Umschlag öffnete:
1. Eine Notiz in Clarissas schwungvoller Handschrift:
W – überprüf das mal. Das hab ich in dem Sammelsurium von JFTs Nachlass gefunden:
Schatten und Fragmente: Eine posthume Sammlung von Schriften Jacob Franklin Temples, zusammengestellt und herausgegeben von seiner Tochter Charlotte Franklin Temple.
Gedruckt im Jahre 1853. Auflage 1000 Stück bei E. Phinney and Son Publishers, Templeton, New York. Führ Dir außerdem Charlottes Nachbemerkung am Ende zu Gemüte. Vielleicht gibt’s hier einen Hinweis? Alles Liebe, C.
2. Ein Auszug, S. 334:
… was für große Rätsel es doch bereithält! Zum Beispiel kursierte erst vor einem Jahr eine reichlich mysteriöse Geschichte im Dorf, wie folgt. Eines Tages kamen drei Jungfern beim Sammeln von wilden Erdbeeren allzu weit vom Pfad ab und mussten schon bald feststellen, dass sie sich verlaufen hatten. Nachdem sie eine Weile in dem dunklen und furchterregenden Gehölz ziellos umhergeirrt waren, gerieten die Mädchen in ihrer Verzweiflung in einen Streit, der schließlich dazu führte, dass eine der drei verärgert von der Gruppe weglief. Weil die Nacht hereinbrach und esGerüchte von einem großen Bären in diesem Wald gab, begannen die beiden anderen zu laufen, bis sie schließlich wieder auf den Weg kamen. Doch kaum waren sie auf dem Heimweg, erhob sich aus dem Gehölz ein Schrei, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ, und als sie endlich wieder zu Hause anlangten, waren sie von Dornen zerkratzt und vor Angst kaum zum Sprechen in der Lage. Als das dritte Mädchen bis zum nächsten Morgen immer noch nicht nach Hause zurückgekehrt war, versammelten sich die Männer des Dorfes und machten sich mit ernsten Gesichtern auf die Suche nach ihr, doch ein zerfetzter Rocksaum blieb das Einzige, was sie fanden. Alle dachten, sie sei verloren.
Dies ist jedoch noch nicht das Ende der Geschichte, denn im folgenden Frühjahr wurde das vermisste Mädchen wieder entdeckt; es lebte in seinem Haus, als wäre nichts geschehen. Obwohl die Münder der Familie bei Anfragen versiegelt blieben, tauchten bald schon eine Reihe von Hinweisen auf, von denen einige durchaus im Widerspruch zueinander standen. So hieß es, das Gesicht des Mädchens sei durch drei schreckliche Narben entstellt, die sich wie Klauenmale über ihr Antlitz zögen; ihr einst rabenschwarzes Haar zeige einen schneeweißen Ansatz; und ihre Mutter habe, nach nur einem Monat Schwangerschaft und mit einer Figur, die so dünn wie ein Rechen sei, einem strammen, ziemlich behaarten kleinen Jungen das Leben geschenkt; außerdem habe während der Zeit, als das Mädchen abwesend war, der Postbote sie in Oneonta gesehen, wo sie als Wäscherin tätig gewesen und alles andere als schwanger gewesen sei. Am verwirrendsten war jedoch die Beobachtung, sobald das Mädchen einen der Herren aus dem Dorfe sah, erbebe es und suche das Weite, um sich zu verstecken; was daran jedoch so seltsam sei, war die Tatsache, dass dieser Herr, obgleich zugegebenermaßen wirklich einem Bären nicht unähnlich, aus einer bedeutenden Familie des Dorfes stammte, im Allgemeinen als geradezu weiblich in seiner Sanftheit erachtet wurde und deshalb wohl kaum in Betracht zu ziehen war, er könne …
Jacob Franklin Temple
Circa 1822, gemalt von Jarvis. Man bemerke sowohl das Lächeln als auch den angedeuteten Heiligenschein um seinen Kopf.
3. Charlottes Nachbemerkung
Es handelt sich hier um ein ausgesprochen verblüffendes Fragment, denn ich weiß nicht, aus welchem größeren Schriftstück mein Vater diese Geschichte verbannte oder was der Grund dafür war, dass er sie bei seinen wichtigsten Papieren aufbewahrte. Dennoch ist der Text faszinierend, denn er beruht auf einem Gerücht aus dem Dorf, das es wirklich gab und an das ich mich noch aus Kindertagen erinnere. In der ursprünglichen Version waren es noch vier statt
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