Die Monster von Templeton
meiner Mutter sich langsam die Treppe hochbewegten, wie die Dielenbretter quietschten und sie sich nach oben in ihr Zimmer schlich. «Ach, Clarissa», sagte ich.
«Nein, tu’s nicht», sagte Clarissa. «Ich will jetzt nicht anfangen zu heulen. Es ist alles vorbei, wenn ich anfange zu heulen.»
«Ich komme», sagte ich. «Heute Abend komme ich. Bald bin ich bei dir.»
«Nein», sagte Clarissa. «Ich
hasse
diese Wohnung. Ich
hasse
diese Stadt. Ich kann nicht hierbleiben. Erinnert mich an Sully.»
«Ich
hasse
Sully», sagte ich.
«Ich liebe ihn», erwiderte sie und war plötzlich ganz verzweifelt. «Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich schwöre bei Gott, dass ich ihn umbringe, wenn ich ihn sehe.»
Diese Art von Reden war, wie ich aus langjähriger Erfahrung wusste, ein Vorbote dafür, dass Clarissa kurz vor einem Zusammenbruch stand. Und wenn jemand, der so stark wie Clarissa war, zusammenbricht, dann ist es genau wie bei Samson, der auch noch die Säulen des Tempels über sich einstürzen lässt, bis nur noch ein gewaltiger,grässlicher Trümmerhaufen übrig ist. Ich hielt den Atem an und begann nachzudenken, was nicht ganz einfach war, weil ich selbst gerade dabei war zusammenzubrechen.
Es war genau in diesem Moment, dass meine Mutter, die vom Telefon in ihrem Zimmer aus schamlos gelauscht hatte, das Wort ergriff. «Sully umbringen, pah», sagte sie. «Unsinn. Du kommst hierher nach Templeton, Clarissa Evans. Ich bin Krankenschwester, und auch wenn ich nicht in der Rheumatologie arbeite, kann ich dir versichern, dass unsere Einrichtungen hier in Templeton top sind, erste Sahne, superklasse. Außerdem kann ich mich persönlich um dich kümmern. Nicht aus der Ferne, wo ich keinen Einfluss darauf habe, was du isst, oder sonst was für dich tun kann. Dein Zimmer wartet auf dich.»
«Ach, Vi», sagte Clarissa hilflos am Telefon. «Du bist doch
Intensiv
-Krankenschwester.»
«Ach, Vi», sagte ich leise. «Was zum Teufel sagst du da?»
«Jetzt hört mal auf, ihr beiden», sagte sie. «Ihr riesengroßen Dummköpfe. Natürlich kommt Clarissa nicht auf die Intensivstation; ihr wird es hier in Templeton einfach besser gehen. Ich mache die Reservierungen und bitte einen alten Freund, dich zum Flughafen zu bringen, Clarissa, Süße. Er wohnt in Noe Valley. Gib mir fünfzehn Minuten Zeit», sagte sie.
«Ich muss los», sagte Clarissa abrupt. «Ich muss jetzt los.» Es klickte in der Leitung, und wir sagten beide: «Clarissa?» ins Telefon.
Ich blieb noch dran und lauschte dem Atmen meiner Mutter. «Das geht schon in Ordnung mit ihr», sagte sie. «Ich ruf zurück, sobald ich alles in die Wege geleitet habe.»
«Danke», sagte ich. «Danke für alles, Vi.»
«Ich mach es nicht für dich», sagte sie. «Also brauchst du mir auch nicht zu danken.»
In genau diesem Moment spürte ich etwas platzen und schaute an meinen nackten Beinen hinab. Das Herz klopfte mir bis zum Hals. «Vi?», sagte ich.
«Willie, was ist denn? Ich muss die Fluglinie anrufen.»
«Vi», antwortete ich. «Ich brauch dich. Jetzt.
Genau
jetzt.»
Ich ließ den Hörer auf die Gabel fallen und hörte die Schritte meiner Mutter, die die Treppe hinunterlief. Ich stand ganz still, während sie durch den Flur donnerte, das Besucherwohnzimmer und das Esszimmer durchquerte und dann den Flügel aus den Siebzigerjahren betrat. Dann kam sie durch die Tür gestürmt wie eine Wahnsinnige.
Die Augen meiner Mutter wanderten zu meinen Beinen, und sie schlug die Hände vor den Mund. Einen ganzen Glockenschlag der Standuhr lang standen wir nur so da und starrten auf meine Beine, über die braunrote Streifen Blut rannen, bis zum Knie. Im Schritt meiner Shorts breitete sich ein leuchtend roter Fleck aus, wie eine Blüte.
Sturm
Ich sah alles ganz deutlich, aber irgendwie hatte ich nichts damit zu tun; irgendwie hatte sich mein Gehirn ausgeschaltet, und mein Körper setzte sich von allein in Bewegung, zog sich die Shorts herunter und wusch sich mit dem Waschlappen, den meine Mutter mir reichte, holte neue Unterwäsche und Jeans und eine Maxibinde und zog alles an, und irgendwie mittendrin dachte ich noch daran, nach dem dicken Umschlag zu greifen, der an diesem Tag für mich in der Post gewesen war, damit ich etwas zu lesen hatte, wenn ich im Krankenhaus warten musste, und dann folgte ich meiner Mutter nach draußen, gehorsam wie ein Hund, stieg in das Auto, in dem sie den Rückwärtsgang
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