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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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man ihn nur indirekt wahrnehmen konnte, so wie man den Umriss einer brennenden Glühbirne sieht, wenn man zu lange hineinstarrt, ein rätselhaftes Etwas, das sich immer dann auflöst, wenn man versucht, es zu fassen.
    «Hallo», sagte ich, verhielt mich vollkommen still und schaute auf meine Knie hinab. «Schön, dich wiederzusehen.»
    Ich sah oder spürte, wie der Geist ein Stückchen näher kam und am Rande meines Gesichtskreises etwas dunkler aufragte.
    «Also, ich bin dann jetzt wieder eine Weile da», sagte ich. «Wenn das für dich okay ist.»
    Als Antwort wurde er heller, wechselte von Lila über Violett zu Blassblau und Rosa und verschwand dann, immer noch pulsierend.
    Es war ein guter Geist. Ich hatte mit ihm zusammengelebt, bis ich ans College ging, und oft, wenn ich mitten in der Nacht aufwachte, aus dem Augenwinkel etwas Dunkles wahrgenommen, das rasch wegglitt, als hätte es bis eben an meinem Bett gesessen und über mich gewacht. Ich spürte, wie seine vagen Umrisse sich aufplusterten und dunkler wurden, wenn ich am Telefon flunkerte, die Tür knallen ließ oder meine Mutter anschrie, sogar wenn ich in der Nase bohrte. Er hatte es gerne sauber, der Geist, er hasste Schweiß und Spucke und Galle, all die schlechten Säfte des Körpers. Das einzige Mal, dass ich mich wirklich von dem Geist bedroht gefühlt hatte, war während der Highschool gewesen, als ich einen potenziellen Verehrer über die Hintertreppe in mein Zimmer geschleust hatte, weil ich meine Jungfräulichkeit leid war und ihr ein Ende bereiten wollte. Damals hatte sich der Geist zu einer gewaltigen, blutergussfarbenen Masse am Rande unseres Gesichtskreises aufgeblasen, die sich in der Mitte fast bis zur Unsichtbarkeit verjüngte, und schwoll schließlich so an, dass er das ganze Zimmerausfüllte, uns regelrecht an die Wand drückte und uns die Luft aus den Lungen presste, bis der Junge es mit der Angst bekam und das Weite suchte. Als ich ihn am Montag in der Schule wiedersah, war eine Strähne seines Haares weiß geworden, und er hörte ganz auf, mit Mädchen zu reden. Irgendwann, auf dem College, hatte er endgültig sein Coming-out als Schwuler gehabt und war fortan in Eurotrash-Montur aufgetreten.
    Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, allein zu sein, doch dann spürte ich, sogar mit geschlossenen Augen, wie der Geist wieder ins Zimmer schlüpfte, unantastbar. «Ich vermute, du merkst es», sagte ich und schloss die Augen. «Ich bin sehr, sehr traurig.»
    Eine Pause; ein Pulsieren. «Es geht um einen Jungen», sagte ich. «Na ja, um einen Mann.» Ich wartete; ein dunklerer Ring zeigte sich. «Ich hasse ihn», sagte ich. In dem Moment kam der Geist näher, eine feuchte, dunkle Aura, die nach Anis und dem kühlen, violetten Geruch der Schatten duftete. Müdigkeit überfiel mich, und ich sank auf das Kissen.
    «Aber es ist nicht nur meinetwegen. Die ganze Welt ist traurig», sagte ich. «Es ist wie ein Virus. Es wird ein schlimmes Ende mit ihr nehmen. Gletscher schmelzen, die Ozonschicht geht immer weiter zurück. Terroristen jagen Gebäude in die Luft, nukleare Brennstäbe verseuchen die Wasserversorgung. Grippeviren hüpfen von Tauben auf Menschen und töten Millionen. Milliarden. Leute verrecken auf der Straße. Die Sonne explodiert, und acht Minuten später fällt sie auf uns drauf. Und wenn das nicht passiert, verhungern wir. Werden zu Kannibalen. Gruselige mutierte Babys haben Augäpfel im Nabel. Es ist ein schrecklicher Ort, um ein Kind zur Welt zu bringen», sagte ich. «Diese Welt. Sie ist schrecklich. Einfach schrecklich.»
    Ich dachte an meine beste Freundin Clarissa, daheim in San Francisco. An ihren kranken Körper, zusammengerollt unter einem Laken, und an Sully, ihren Freund, der ihr über das Gesicht streicht, damit sie einschlafen kann. Ich überlegte, ob ich sie anrufen sollte, aber meineGlieder waren so schwer, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich dachte an das Ungeheuer, an das Klümpchen in meinem Bauch, das sich immerfort teilte, und dann an Primus Dwyer. Und ich erinnerte mich an die Landschaft von Upstate New York, die an diesem Morgen im Dunkeln vor meiner Windschutzscheibe vorbeigezogen war, an die buckligen Scheunen, die langsam in sich zusammensanken, an die Rehe, die aufgescheucht durch die Dunkelheit sprangen. Und wie ich – als ich nach jenen vierzig langen Stunden, die ich durchgefahren war, nach den letzten Halluzinationen von Primus Dwyer, der dort neben mir saß, grinsend, die runde Brille glänzend

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