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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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kriegt; sie hinterließ Lippenstiftringe auf ihren Zigaretten und schnipste die Kippen einfach hinter sich, wie Blütenblätter. War man gemein zu ihr oder tratschte über sie, suchte sie empört das Weite, doch sie liebte ihre Freunde so sehr, dass sie sie die ganze Zeit nachahmte, und man fühlte sich immer geschmeichelt, wenn man bei ihren Imitationen an der Reihe war. Bei Witzen hatte sie einen denkbar schlechten Geschmack, kalauerte ohne Ende und hatte das einzigartige Talent, mich immer zum Lachen und zum Weinen zugleich zu bringen; als ihr dann endlich ein Typ ins Netz gegangen war, der auch noch den bezeichnenden Namen Sully Bird trug, grinste sie mir anzüglich zu, sagte:
Besser der Spatz in der Hand
, und ließ mich dann den Satz vollenden. Als Steuermann der Herrenrudermannschaft konnte man sie den gesamten Fluss entlang hören, wenn sie ihren Jungs zurief: «Na los, ihr faulen Säcke,
zieht!
», und weil es Clarissa war, zogen sie auch. In Little Trees würden sie für sie gewinnen, und bei der Head-of-the-Charles-Regatta wurden sie in jenem Jahr Zweite.
    An dem Tag, als ich zu Thanksgiving zurück nach Templeton fuhr und kurz vor der Abfahrt mit meinem Rucksack an Clarissas Zimmer vorbeikam, lag sie auf ihrem Bett und las. Ihr Zimmer war ein Saustall, und es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sie gepackt hatte. «Clarissa», sagte ich. «Wann fährst du denn?»
    Sie hob die Augen nicht von der Seite. «Gar nicht», sagte sie. «Ich bleibe hier.»
    «Du kannst doch an Thanksgiving nicht hierbleiben», sagte ich. «Das ist lächerlich.»
    «Klar kann ich das», sagte sie. «Ich finde diese Mischung aus allen möglichen internationalen Gerichten
super.
Wer hat schon gewusst, dass man Pappadams mit Preiselbeeren drauf essen kann? Köstlich.»
    «Mensch, Mädchen», sagte ich. «Ich hab eine Idee. Du kommst einfach mit mir nach Templeton.»
    Es bedurfte großer Überzeugungsarbeit, aber am Ende kam sie mit. Während der Fahrt spürte ich, wie entsetzt Clarissa über die Anzeichen von Armut und Verfall in Upstate New York war, über die verlassenen Scheunen, die wie Walfischgerippe aus dem frostigen Boden ragten, die Wohnwagen, die sich an den Rand der Autobahn schmiegten, die Geisterstädte mit ihren schäbigen viktorianischen Häusern. Ich merkte, dass sie ihre Entscheidung, mit nach Templeton zu kommen, bereits zu bereuen begann, weil sie wahrscheinlich mit Sofas voller Katzenpisse und einem zugigen Zimmer rechnete, in dem sie die ganze Nacht zitternd vor Kälte wach liegen würde. Wenn es eines gab, was mich an Clarissa ärgerte, war es ihre etwas verdrehte Beziehung zu Geld, die Tatsache, dass sie hundert Dollar bezahlte, um sich Strähnchen machen zu lassen, und nur belgische Schokolade aß. Und so bestärkte ich sie noch in ihrem Unbehagen, erzählte ihr, mein Vetter BillyBob (den es gar nicht gab) würde mit uns bestimmt eine Spritztour mit seinem Schneemobil machen; erklärte, dass wir meine Großmutter (die es ebenfalls nicht gab) Genesee Ginny nannten, weil sie schon um neun die erste Dose Bier zischte und in diesem Tempo den ganzen Tag weitermachte, und dass sich Clarissa nichts dabei denken solle, wenn sie sie bewusstlos auf dem Boden vorfinde, sondern sie einfach nur in eine stabile Seitenlage bringen solle, für den Fall, dass sie sich übergeben musste. Der gesamte Staat New York sei im Sterben begriffen, ließ ich Clarissa wissen. Ich erzählte ihr, wiemeine Freunde und ich die Städte dort oben nannten: Syracuse hieß bei uns Schlimmer-Fuß, Rochester war Roch-schlechter, statt Albany sagten wir Altes-Knie und zu Utica Juckt’s-mich-da.
    Als wir den See umrundeten, war Clarissa bleich und ihre Stirn in tiefe Falten gelegt, doch als wir nach Templeton mit seinen großen alten Herrenhäusern und den blitzsauberen Straßen einbogen, in denen ganze Trauben von glücklichen Touristen herumschlenderten, hellte sich ihre Miene auf. «Das hier», sagte sie und drehte sich zu mir, einen Ausdruck der Verwunderung auf dem Gesicht, «sieht aus wie eine Stadt in einer Schneekugel. Es ist wundervoll.»
    «Na ja. Ist ganz nett hier», sagte ich.
    «Nein», erwiderte sie, und ihre Stimme wurde ganz streng. «Es ist wundervoll.»
    In jener Woche kamen Clarissa und meine Mutter locker miteinander aus, so sehr, dass Vi oft bis spät in die Nacht aufblieb und bei Plätzchen und Wein mit uns zusammensaß und dabei lachte und lachte, so sehr, wie ich sie nie in ihrem Leben hatte lachen hören. In diesem Jahr

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