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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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dann waren sie wieder zusammen, als wäre nichts geschehen, lachten sich gegenseitig tot über Clarissas respektlose Imitationen ihrer jeweiligen Freunde und bogen wieder in ebenso improvisierten wie exakt aufeinander abgestimmten wiegenden Bewegungen um die Straßenecken. Dennoch spürte ich – oder ich bildete es mir ein – ein gewisses Zaudern, eine kleine Abkühlung, die ich vorher nicht wahrgenommen hatte. Manchmal, wenn sie übers Wochenende «für einen Auftrag» unterwegs war, hatte ich den Verdacht, dass sie in Wirklichkeit meine Mutter in Templeton besuchte und in dem Siebzigerjahrezimmer auf dem zweiten Stock nächtigte, das wir «Clarissas Zimmer» nannten. Dennoch sagte ich nie etwas. Jeder hat einen kleinen Trost verdient.
    Und dann, aus heiterem Himmel, hatte meine Clarissa im Alter von neunundzwanzig Jahren erfahren, dass sie krank war.
    Eines Abends Ende Februar waren Clarissa und ich zur Vernissage einer unserer Freundinnen vom College gegangen. Heather war Bildhauerin und auf dem besten Wege, berühmt zu werden, obwohl sie, als wir sie kennenlernten, nur eine dickliche Politikstudentin gewesen war, die ihr ganzes Leben lang davon geträumt hatte, eine Denkfabrik zu gründen. Mittlerweile war sie spindeldürr, weil sie praktisch nur Rohkost zu sich nahm, trug kunstvoll zusammenhanglose Baumwollkleider, die sich perfekt um ihren schlanken Körper schmiegten, und stellte üppige, dreidimensionale Körperteile aus organischem Material her, riesige, verblüffende Brüste und Bäuche und Penisse, die sie aus Blättern und Kernen und geflochtenem Gras zusammenbaute. Kaum waren wir durch die Tür und hatten eine Champagnerflöte in der Hand, seufzte Clarissa und rieb sich den Kopf. «Ich bin so müde, Willie», hatte sie gesagt. «Gott, noch nie in meinem Leben bin ich so müde gewesen.» Ich hörte gar nicht richtig zu, weil ich auf der Suche nach Heather war, um sie zu ihrer Vernissage zu beglückwünschen; außerdem jammerte Clarissa nun schon seit fast drei Monaten ständig darüber, wie müde sie sei, was meiner Ansicht nach daran lag, dass sieso hart an ihrem derzeitigen Artikel über einen Cop aus Berkeley, der krumme Dinger drehte, gearbeitet hatte. Ich entfernte mich einen Schritt von Clarissa, hörte ein leises
Uff,
und als ich mich wieder umdrehte, saß sie auf dem Granitsockel von zwei ausladenden goldenen Hinterteilen, die aus reifem Stroh geflochten waren.
Ohne Flachs
, lautete der Titel des Kunstwerks. Clarissa war bleich und schüttelte den Kopf.
    «Wow», sagte ich und ging neben ihr in die Knie. Als ich ihr die Hand auf den Arm legte, fühlte sie sich ganz heiß an. «Alles okay?»
    «Ich weiß nicht», sagte Clarissa. «Ich glaub schon. Vi meint, ich bin einfach nur ein bisschen blutarm. Aber das kommt schon wieder in Ordnung; ich esse jede Menge Rindfleisch.»
    «Moment mal», sagte ich. «Du warst so besorgt, dass du extra Vi angerufen hast?»
    Sie hob die Schultern. «Na ja», sagte sie. «Ich meine, so hab ich mich noch nie gefühlt. Und schau dir das mal an; das hab ich seit drei Tagen.» Clarissa zog die Unterlippe von ihrem Zahnfleisch weg und zeigte mir eine feuerrote Pustel von der Größe eines Vierteldollarstücks.
    «Das ist ja ekelhaft», sagte ich.
    Sie schenkte mir ein boshaftes kleines Lächeln. «Das hat Sully auch gesagt.» Dann streckte sie die Arme, kippte den Champagner mit einem Zug und stand auf. «Mir geht’s schon wieder besser. Lass uns Heather finden und abhauen», sagte sie. «Ich muss ins Bett.»
    In der ganzen darauffolgenden Woche sah ich Clarissa nicht, doch als wir uns am Sonntag zum Brunch trafen, kam sie mir noch winziger vor, als sie es sowieso schon war. Nervös blinzelte sie in dem Licht, das schräg durch die Fenster des Cafés hereinfiel. Sie hatte einen seltsam roten Ausschlag, der sich quer über ihr ganzes Gesicht zog und so klar abgegrenzt war, dass es fast unecht aussah. Ich umarmte Clarissa und sagte, ohne mich hinzusetzen: «Bestell dir nichts. Ich bring dich zum Arzt. Und zwar gleich», sagte ich.
    «Mach dir keine Umstände», sagte sie. «Am Freitag war ich bei meinem Dermatologen, und der hat gesagt, es liegt an meiner Gesichtslotion.»
    «Du bist zu deinem
Hautarzt
gegangen?», fragte ich. «Clarissa, was, wenn es …», doch Clarissa winkte nur mit ihrer winzigen Hand ab, ließ einen feuchten Husten vom Stapel und beruhigte mich. «Ich will einfach nur mein Schokocroissant», sagte sie. «Ich will einfach nur einen großen Pott

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