Die Monster von Templeton
Nerv hatte, Clarissa anzurufen. Ich hatte keine Angst, sie zu wecken; sie wohnte in San Francisco, wo es noch nicht mal dunkel war. Ebenso wenig befürchtete ich, sie sei böse auf mich, was sie mit Sicherheit sein würde, weil ich mich in das schreckliche dunkle Loch hatte fallen lassen, in dem ich nun hockte. Eher fürchtete ich ihren Zorn, weil ich schon zwei Monate weg war und es da draußen in der windgepeitschten Wildnis von Alaska kein Telefon gegeben hatte und weil ich zwar einige wunderschöne Briefe von ihr erhalten hatte, mich jedoch die ganze Zeit nicht bei ihr gemeldet hatte. Ich fürchtete mich, weil ich ihr immer sofort an der Stimme anmerkte, wie es um sie stand, und ich glaubte nicht, dass ich es an diesem Tag ertragen würde zu hören, dass es ihr nicht besonders ging. Sollte ich ihrer Stimme mehr Schwäche anhören, als man es bei einer schwerkranken Dreißigjährigen erwarten konnte, würde ich es nicht fertigbringen, damit umzugehen, nicht in dem Zustand, in dem ich mich befand. Ich setzte mich mit dem Wählscheibentelefon auf dem Schoß aufs Bett und schaute es lange Zeit an, ohne einen Finger zu rühren.
Clarissa und ich hatten uns an dem kleinen College für Freie Künste an meinem allerersten Tag im Herbstsemester kennengelernt, als ich zwanzig Minuten zu früh für das Französisch-Seminar eintraf, in demich erhoffte, einen Platz zu ergattern. Das Seminar sollte im knarzenden obersten Stockwerk eines alten Observatoriums stattfinden. Ich öffnete die Tür und platzte, zu meiner Bestürzung, mitten in ein vermeintliches Schäferstündchen zwischen dem Professor und einem Mädchen herein, das aussah, als könnte es sei seine Tochter sein. Sie hatte blonde Korkenzieherlocken und den vogelähnlichen Knochenbaueiner Tänzerin. Ihre Kleider waren bunt und wild zusammengewürfelt, lauter Rot und Pink und Karos und Paisley-Muster. Von der Tür aus gesehen, hätte ich sie auf zehn Jahre geschätzt, nicht älter. Die beiden sprachen miteinander, fuhren jedoch herum, als ich eintrat.
Und dann sagte das kleine Mädchen mit einer überraschend tiefen und kehligen Stimme: «Heiliger Bimbam. Jetzt hätte ich mir echt vor Schreck fast in die Hose gemacht. Na, dann komm mal rein und mach’s dir gemütlich.» Der Professor grinste sie an, offenbar köstlich amüsiert.
Erst als ich näher trat, sah ich die flinken und schelmischen Augen des Mädchens und erkannte an ihrer Haltung, dass sie deutlich älter sein musste, als ich ursprünglich gedacht hatte. «Das hier ist Professor Serget, und ich bin Clarissa Evans», sagte sie. «Wir haben gerade über George Sand gesprochen. Meiner Meinung nach nur eine zweitrangige Schriftstellerin, aber dieses Semester lesen wir
Indiana.
Wieder mal», sie zwinkerte dem Professor zu, der ein leises Glucksen von sich gab. Dann lächelte mir Clarissa freundlich zu und sagte: «Und du bist ein Erstsemester. Komm, setz dich neben mich, und ich lass dich bei mir abschreiben.»
Stattdessen nahm ich jedoch auf einem Stuhl direkt gegenüber von ihr Platz und setzte eine finstere Miene auf. «Willie Upton», sagte ich so kühl, wie ich nur konnte. «Ich bin mir sicher, dass ich auch allein klarkomme.»
Sie nickte, und ihr Gesicht leuchtete auf. «Aha», krähte sie, als die Tür aufging und andere Studenten hereintröpfelten. «Du hast Mumm in den Knochen! So hab ich’s gern!», sie zwinkerte mir zu.
Clarissa hatte hervorragende Ideen, doch ihr Französisch war mangelhaft, und selbst der Professor musste sich ein Grinsen verkneifen, wenn sie den Mund aufmachte und mit ihrer völlig unpassenden Stimme ein neues Thema in Angriff nahm. Als ich an jenem Tag vom Unterricht nach Hause ging, lief sie neben mir. Wir müssen ein ziemlich lächerliches Paar abgegeben haben, ich lang und schlaksig unddaneben die winzig kleine Clarissa, wie ein Reiher, der neben einem kettenrauchenden Sittich einherschreitet.
Von da an, und obwohl sie zwei Semester über mir war, machten wir alles zusammen. Ich besuchte mit Clarissa höhere Lehrveranstaltungen, nahm zusammen mit ihr und ihren Freunden, allesamt gewiefte Typen, im Speisesaal meine Mahlzeiten ein. Schließlich zog ich sogar zu ihr, als eine ihrer Mitbewohnerinnen wegen Dealens mit Hasch gefeuert wurde. Clarissa erstaunte mich: Im Wettsaufen war sie unschlagbar und zitierte dabei noch Nietzsche; sie konnte acht Stunden wandern, ohne sich einmal zu beklagen, und verpasste meinen Fingernägeln eine bessere Maniküre, als man sie im Nagelshop
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