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Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
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fiel zu Thanksgiving ungewöhnlich früh viel Schnee, und als meine Mutter eines Abends bei der Arbeit war, gingen Clarissa und ich zum Kerzenfest im Bauernmuseum, wo man kleine Kuhlen in die Schneewehen gedrückt und flackernde Teelichter hineingestellt hatte, sodass der Schnee mit lauter goldenen Lichtkränzen von innen beleuchtet war. Der aufkommende Wind roch nach Holzfeuer, nach frisch gefallenem Schnee, nach heißem Apfel-Zimt-Punsch und sogar nach dem sauberen Schweiß der Clydesdale-Pferde, die uns im Schlitten von Ort zu Ort brachten. Das Klingeln der Glöckchen an ihren Geschirren mischte sich mit den Klängen von Fiedeln aus Sherman’s Tavern, wo eine Art Tanzabend im Gange war, und dem schrillen Kreischen der Kinder, die auf der dunkel werdenden Gemeindewiese eine Schneeballschlacht veranstalteten.
    Clarissa stand mit mir auf der Treppe der Apotheke und schaute auf das altmodische Dorf im weichen Dämmerlicht. Dort in dem kleinen,engen Laden des Apothekers hatten wir gerade an einem Duftgemisch aus tausend Kräutern geschnuppert; hatten die Nase an Mutterkraut und Eibe und Bienenbalsam und Aspirin aus der Rinde der Silberweide gehalten; hatten das Schädelmodell getätschelt und den fetten schwarzen Blutegeln zugesehen, die an der Glaswand ihres Einweckglases hingen. Aristabulus Mudge, der die alte Apotheke schwarz neben seiner viel moderneren Filiale in der Stadt betrieb, schaute uns gut gelaunt zu, legte über dem buckligen Rücken den Kopf schief wie ein Papagei und schenkte uns Lavendelsäckchen für unsere Strumpfschubladen.
    «Da bist du ja, Willie Temple», hatte er zur Begrüßung zu mir gesagt. Es war der übliche Beginn eines kleinen Rituals.
    «Willie
Upton
», sagte ich in gespieltem Ärger.
    «Wenn du meinst», erwiderte er darauf und zwinkerte mir zu, wie immer.
    Draußen vor der Tür stieß Clarissa einen tiefen Seufzer aus. «Irgendwie», sagte sie, «fühle ich mich richtig wie eine Pioniersfrau. Ist das nicht komisch?»
    Ich schaute auf ihre teuren Schneestiefel und die Jeans für dreihundert Dollar und grinste.
    Doch dann sagte ich, woran ich gerade gedacht hatte, und das war ebenso seltsam. Ich meinte, wenn uns als Gesellschaft das Öl ausginge – ein Thema, das in jenem Herbst das Lieblingsthema meines Wirtschaftsprofessors gewesen war –, wenn alle gesellschaftlichen Strukturen zusammenbrächen und wir auf die herkömmliche Weise nicht mehr in der Lage seien, uns zu ernähren, dann tröste mich der Gedanke, wir bräuchten bloß hinüber ins Bauernmuseum zu gehen und all die längst in Vergessenheit geratenen, lebenswichtigen alten Techniken und Handwerke von Neuem zu erlernen. «Es ist eine Welt, die sich selbst genug ist», sagte ich zu Clarissa, so aufgeregt, dass ich die Grimasse nicht sehen konnte, die sie schnitt. «Hier liegt ein ganzer Schatz von vergessenem Wissen. Die stellen alles dort her: Schuhe,Fässer, Räder, Besen, Leinen. Man kann dort Tierhaltung lernen und Kräutermedizin, alles, was das Herz begehrt. Wie so ein kleiner Kulturgenerator für Notzeiten. Wenn die gesamte Zivilisation baden geht, dann können wir einfach nach Templeton kommen.»
    Erst als ich meine kleine Ansprache zu Ende gebracht hatte, schaute ich Clarissa an und sah den Zorn in ihrem Gesicht. «Warum musst du immer alles kaputt machen», sagte sie, sprang in die Schneeverwehung neben der Veranda und stapfte davon. Die roten Puschel an ihrer Wollmütze wackelten mir wütend zu.
    Als es für uns an der Zeit war, ins College zurückzufahren, nahm meine Mutter Clarissas kleinen Kopf in ihre Hände und spähte auf sie hinab.
    «Hier ist immer ein Zimmer für dich, wenn du eins brauchst», sagte sie.
    «Vi», sagte ich entsetzt. «Clarissa hat selber eine Familie.»
    Vi schaute mich nicht an, sondern küsste Clarissa auf die Stirn. Und dann sagte sie etwas, so leise, dass ich es nicht ganz verstehen konnte. Es klang wie: «Na ja, ein Waisenkind erkennt immer ein anderes Waisenkind.»
    Später, im Wagen, als wir nach Massachusetts hineinfuhren, starrte ich auf die glitzernde, vereiste Straße hinaus. «Clarissa», sagte ich. «Möchtest du mir sagen, was das bedeuten sollte? Was Vi da gesagt hat?»
    Zuerst sagte sie nichts, mindestens fünfundzwanzig Kilometer lang. Dann endlich zündete sie sich eine Zigarette an, obwohl das in meinem Auto verboten war, blies den Rauch durch einen Spalt im Fenster nach draußen und sagte: «Sie hatte recht.»
    Während sie aus dem Beifahrerfenster starrte, erzählte

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