Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Monster von Templeton

Die Monster von Templeton

Titel: Die Monster von Templeton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Groff
Vom Netzwerk:
sie mir, sie sei das einzige Kind eines älteren Professorenpaares, sozusagen die Frucht ihres Alters, der immer ihre gesamte Aufmerksamkeit galt. Und dann, als sie fast sechzehn gewesen war, hatten sie gemeinsam eine Reise nach Norwegen unternommen, und ihr Vater hatte beim Koboldpassihren gemieteten Volvo an den Straßenrand gefahren, um ein Foto zu machen. Während ihre Eltern an der Felskante standen, war sie hinter einen Baum geklettert, um Pipi zu machen.
    Als sie wieder hervortrat, waren sie beide weg. Die Kamera lag direkt an der Kante zum Abgrund. Auf dem letzten Bild sah man ihre beiden Gesichter lächelnd vor der Schlucht, vom Vater aufgenommen, der die Kamera auf Armlänge vor sich hielt.
    «Mom? Dad?», rief Clarissa voller Ungewissheit, und niemand hatte ihr je geantwortet. Sie begann zu schreien, lauter und lauter, und das Echo, das wider- und widerhallte, war fern und spöttisch.
    Als man das Felsgestein unten absuchte, wurde nichts gefunden. Und auch als sie in das Haus in Connecticut zurückkehrte, fehlte dort nichts. Man hatte ihr die Lebensversicherung ihrer Eltern ausgezahlt, und so verfügte sie, nachdem sie das Haus und einen Großteil der Möbel verkauft hatte, über genügend Geld. Doch ihre Eltern waren Einzelkinder von Einzelkindern gewesen, und so hatte sie eben niemanden, zu dem sie in den Ferien gehen konnte, erzählte sie.
    Während wir auf den Parkplatz hinter dem Studentenheim bogen, wandte sie sich zu mir. «Wenn du das irgendjemandem erzählst, dann bring ich dich um, kapiert?», sagte sie. «Mausetot mach ich dich. Und es wird ein verdammt schmerzhafter und tragischer Tod sein, kapiert? Mit der Garotte. Und vielleicht gibt’s auch noch Auspeitschen dazu, wenn ich so richtig sauer bin.» Als wir geparkt hatten, sahen wir einem Jungen dabei zu, wie er versuchte, einen riesigen Seesack durch die Tür des Wohnheims zu quetschen. Sein Atem stand in der Kälte wie ein Ginsterbusch um seinen Kopf.
    «Na gut», versprach ich schließlich. «Und warum?»
    «Ich will nicht, dass mich irgendjemand bemitleidet», sagte sie und kniff mich ein bisschen in den Arm. «Niemals. Du auch nicht. Höchstens beleidmitten darfst du mich», sagte sie und lächelte schwach über ihren Kalauer.
    Clarissa hatte ihren Abschluss gemacht und war Journalistin geworden,obwohl ihre Berufswahl mich zunächst etwas erstaunt hatte. Doch da war tatsächlich etwas an ihrer winzigen Gestalt und ihrer ausgeprägten Persönlichkeit, an ihren kunterbunten Klamotten und ihrer hintergründig unschuldigen Art, das die Leute dazu brachte, sich ihr anzuvertrauen. Sie war sehr gut in ihrem Job. Mit Sullivan Bird, der schlau und lieb und lustig war, war sie mittlerweile verlobt, und obgleich ich anfangs meine Schwierigkeiten damit hatte zu glauben, jemand, der kein Perverser war, könne Interesse an einer Frau zeigen, die aussah wie ein zwölfjähriges Mädchen, hatte er mich schließlich überzeugt. Sully Bird war Architekt, hatte ein Gesicht so weich wie ein Koalabär und war Clarissa, als er sie bei einem Konzert zum ersten Mal gesehen hatte, den ganzen Abend hinterhergelaufen, einen völlig geblendeten Ausdruck im Gesicht. Er hatte nur wieder und wieder gesagt: «Bitte, geh mit mir aus. Bitte», und damit alle ungeschriebenen Gesetze, nach denen man in den Augen des noch unbekannten Objekts seiner Begierde niemals einen armseligen Eindruck machen darf, in den Wind geschlagen. Sie lachte; sie gab klein bei; und sie hatte zu unserer beider Überraschung herausgefunden, wie sanft und liebenswert Sully war. Mittlerweile war sie seit fünf Jahren mit ihm zusammen. Gut, im letzten Winter hatten sie eine Krise und einmal in einer Bar sogar einen regelrechten Streit gehabt (aus der Jukebox dröhnte «Love Me Tender», der Geschmack von Mojitos hing in meinem Mund), einen Streit, der aus dem Nichts zu kommen schien und sich blitzschnell zu echten Handgreiflichkeiten ausgeweitet hatte. Während Sully sie mit Schimpfwörtern wie «Snob», «oberflächlich», «Egoistin» und «brutale Kuh» attackiert hatte und Clarissa mit «Einfaltspinsel», «Schlappschwanz» und «intellektuelles Weichei» konterte, hatten die Leute ringsum den Kopf eingezogen und waren in Deckung gegangen. Alle unsere Freunde hatten das Weite gesucht.
    «Ich kann diesen Mann einfach nicht heiraten», jammerte Clarissa im Taxi nach Hause, nachdem ich sie aus Sullys Schwitzkasten befreit hatte. «Der
kennt mich gar nicht.»
Ihre Trennung dauerte eine Wochean, und

Weitere Kostenlose Bücher