Die Monster von Templeton
Korrespondenz. Die meisten Episteln waren oberflächlich und voller femininer Nichtigkeiten und wurden von mir der New York State Historical Society gestiftet. Bei den wenigen Briefen hier handelt es sich um eine Auswahl aus vielen anderen. Obwohl sie als Belege mein Lebenswerk untermauern könnten, habe ich beschlossen, sie unter Verschluss zu halten. Viele Jahre lang habe ich versucht, sie zu vernichten, musste jedoch feststellen, dass ich nicht dazu in der Lage bin, weil es sich um historische Dokumente handelt. Zwar fürchte ich, sie könnten in die falschen Hände geraten, doch noch viel mehr fürchte ich ihre Zerstörung. Wie auch immer Ihre Beziehung zu unserer
Familie geartet sei, seien Sie bitte ein guter Hüter dieser Geheimnisse.
George Temple Upton, 1966
***
Aus der Feder von Charlotte Temple, Franklin House, Blackbird
Bay, Templeton
Dreizehnter November 1861
Meine liebste Freundin,
wie sehr sehnt sich in diesen Zeiten der Not mein Herz nach Ihnen! Kaum konnte ich die Tiefe Ihrer Traurigkeit ertragen, als ich Sie heute dastehen sah, in Ihrem Trauerflor, Ihr schönes kleines Gesicht so tapfer und reglos, während die Sargträger Ihren vierten Gemahl in die Grube senkten. Und ich, die ich mir nicht einmal vorstellen kann, auch nur einen Ehemann zu besitzen, geschweige denn ihn zu verlieren, musste rasch das Weite suchen angesichts Ihres Schmerzes, nachdem ich all das Geflüster vernommen hatte, jene schrecklichen Gerüchte. Den ganzen Heimweg nach Franklin House in der Kutsche musste ich weinen, und ich weine noch immer um Sie. Dies ist auch der Grund, warum ich an diesem düsteren Nachmittag nicht zu der Trauerfeier in Averell Cottage erschienen bin; ich hätte es nicht ertragen, Sie bei dem Versuch zu sehen, stark zu sein angesichts des falschen Mitgefühls derselben Klatschmäuler, die auf so skandalöse Weise flüsternd über Sie herzogen, als Sie Ihren Gatten zu Grabe trugen. Man sollte sie erwürgen! Schande über sie! Schande über mich, weil ich Ihnen keine treue Freundin war und Ihnen nicht zur Seite stand, wo Sie doch so sehr meiner bedurft hätten. Werden Sie mir verzeihen können?, frage ich mich. Und vergeben Sie auch dieses eilige Sendschreiben; mein Herz fließt mir über, und so groß sind
meine Gefühle, dass ich fürchte, ich könnte mit meiner Feder das Briefpapier durch stoßen.
Ihre liebende Freundin
Charlotte Temple
***
Averell Cottage, Templeton
20. November 1861
Meine liebe Charlotte,
ich hoffe, Sie können davon absehen, dass bereits wieder eine Woche vergangen ist, seit ich Ihr Kondolenzschreiben erhalten habe – ich hatte so viel zu tun! Außerdem wollte ich mir die Antwort darauf bis zum Schluss aufsparen und sie recht genießen, ebenso wie ich es genieße, an Sie zu denken, meine liebe Freundin, und das die ganze Zeit.
Wenn man einmal von meiner Trauer um meinen armen Godfrey absieht, langweile ich mich ganz schrecklich. Ein ganzes Jahr und einen Tag wird meine Volltrauer währen – wie beschlossen von der Familie Graves als Bedingung dafür, dass ich meinen Anteil am Besitz des lieben Godfrey erhalte. Nach dem Jahr der Volltrauer haben wir uns auf sechs Monate der Halbtrauer geeinigt und auf weitere sechs der Abtrauer. Doch es ist die Volltrauer, die mir die größte Sorge bereitet – ein ganzes Jahr Wolle und Trauerflor und Jettschmuck, ein ganzes Jahr ohne Musik, Essenseinladungen und Bälle, ohne hübsche Spitze oder Bänder, ein Jahr ohne Besucher, ohne die Möglichkeit, Ihr hübsches Gesicht zu sehen, meine liebe Charlotte – und das ist wahrlich schlimmer als Godfreys Ableben!
Ach! Sie wissen, dass ich das so nicht gemeint habe – ich schrieb es, um Sie zu schockieren. Ich liebe es, Sie zu schockieren, zu sehen, wie Ihr Gesicht erbleicht, Sie mich ganz streng anblicken und seufzen: «Ach, Cinnamon!», als wäre ich einfach ein hoffnungsloser Fall! Jetzt lache ich bei dem Gedanken, und selbst das scheint unpassend zu sein – wenn man aus dem finsteren Blick schließen mag, den mir mein Dienstmädchen aus dem französischen Kanada, Marie-Claude, unter zusammengezogenen Brauen zuwirft. Ihr hässliches Antlitz wird wohl leider das Einzige sein, das ich bis nächsten November zu Gesicht bekommen werde. Doch wenigstens habe ich Sie, um Ihnen zu schreiben.
Charlotte Franklin Temple
Aquarell, Mitte der Fünfzigerjahre des 19. Jahrhunderts.
Was soll ich nur tun, solange ich hier eingekerkert bin? Malen könnte ich, doch das Cottage verfügt nur über eine
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